Foto: Das Ensemble in "Fahrräder könnten eine Rolle spielen" in der Uraufführung am Ballhaus Naunynstraße in Berlin. © Lutz Knospe
Text:Barbara Behrendt, am 26. November 2012
Wenn alle Menschen ein absolutes Gedächtnis hätten, dann dürften noch so viele Akten im Schredder landen – die Wahrheit bliebe in den Köpfen, Verschleierung von Tatsachen gäbe es nicht mehr. Hat aber nur ein einziger Mensch ein absolutes Gedächtnis – dann läuft er Amok, sobald er Zeuge des Ermittlungsdesasters um die Morde des NSU wird. Marianna Salzmann und Deniz Utlu erfinden in „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ einen solchen Menschen: Andreas, ein Underdog mit Woyzeck-Anleihen, kellnert beim FDP-Parteitag, verkauft Eis im Fußballstadion und sorgt für die Schnittchen beim NSU-Untersuchungsausschuss. Rassistischen Tendenzen begegnet er überall. Wie ein Roboter spuckt er dann Zahlen, Statistiken, Infos aus, die die Klischees der Ausländerfeindlichkeit widerlegen.
Salzmann und Utlu verwenden die Notizen der Journalistin Mely Kiyak, die regelmäßig Sitzungen des NSU-Untersuchungsausschusses mitverfolgt. Das grotesk dürftige Ergebnis „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ gab dort der BKA-Chef Jörg Ziercke nach umfangreichen Ermittlungen bekannt. Die Autoren verschränken solche Informationen nun mit der fiktiven Figur des Andreas, dem seine Freundin ein paar „nette“ Nazis vorstellt. Um an Geld zu kommen wollen sie nun alle gemeinsam einen Überfall auf türkische Läden vortäuschen – ein Video davon soll ans Fernsehen verkauft werden. Mit Kritik sparen Salzmann und Utlu nicht: Korrupte Medien, naziverseuchte Behörden, blinde und dumme Politiker allerorts – sie verwechseln Rechtsextremismus mit islamistischem Terror.
Kiyaks Notizen sind brisant, die Dialoge des Autorenduos prägnant – doch die Mischung aus Fiktion und Dokumentation will nicht aufgehen. Die Figuren wirken wie Thesenträger, die Handlungsstränge unverbunden. Andreas’ finaler Amoklauf gegen die Nazi-Bande bleibt ein Rätsel. Noch rätselhafter, warum Lukas Langhoff den Text entpolitisiert und um jede Ernsthaftigkeit bringt. Die Bühne ist ein einziger Wink mit dem Zaunpfahl: Zentimeterhoch steht hier der braune Sumpf, so glitschig, dass die fünf Schauspieler kaum einen Schritt wagen und die meiste Zeit an einem halbrunden Tisch sitzen. Zu simpel die Figurenzeichnung: Der Nazi-Kumpel trägt Hitlerbärtchen, sächselt heftig, ist schwer begriffsstutzig. So dementiert Langhoff den Text geradezu – denn dort siedelt das rechte Gedankengut eben nicht an den Rändern der Gesellschaft, sondern mitten unter und in uns. Sebastian Brandes muss als Nazi-Basti eine Zote nach der anderen reißen – und das Kreuzberger Publikum lacht sich kaputt über so viel Blödheit. Ja, wenn es so einfach wäre!
Gravierend auch Langhoffs Texteingriffe: Nur einzelne Szenen greift er heraus und bläst sie mit Witzchen auf, dass sie kaum wiederzuerkennen sind. Müßig, der Handlung folgen zu wollen. Am Ende noch ein Kunstgriff, der völlig fehlschlägt: Die Schauspieler verlassen abrupt ihre Rollen und kommentieren das Spiel, mit hoch erhobenem Zeigefinger. „Es geht hier nicht um Herkunft, sondern um Haltung“, wird da allen Ernstes gepredigt. Trotz aller Späßchen: ein Trauerspiel. Mehr Glück hatte Marianna Salzmann kürzlich am Deutschen Theater; dort inszenierte die junge Regisseurin Brit Bartkowiak ihr Stück „Muttersprache Mameloschn“ ganz ohne solche Albernheiten, ohne auftrumpfende Regiehandschrift – mit klugem Respekt.