Foto: Melanie Lüninghöner, Daniel Seniuk und Hermann Große-Berg in "Kriech" am Theater Erlangen. © Jochen Quast
Text:Martin Bürkl, am 26. November 2012
Wärterin, Soldat und Manager. Drei Menschen auf Vortragsreise machen Halt auf der Studiobühne des Erlanger Theaters. Die gemeinsame Mission: Vermittlung abendländischer Werte am Negativbeispiel des eigenen Scheiterns. Geht das gut? Für die Figuren: Nein. Als Theaterabend: Absolut!
Eine Frau und zwei Männer stehen in Gewändern zwischen Gefängniskleidung und Raumanzug vor Publikum. Einerseits ziemlich uniform und grau – ohne Namen, ohne Nummer, dafür mit Strichcode zur Identifizierung als Ausgestoßene der Gesellschaft. Andererseits silbrig-glänzend – wie ein wetterfester Schild, wie ein Panzer gegen zu viel Einfluss von Außen. Doch dieser Schutz währt nicht lange; erst recht nicht gegenüber den eigenen Gefühlen. Kathrin Hauers Kostüme und das ebenfalls von ihr stammende karge Bühnenbild schweißen die Inszenierung von Marcel Luxingers „Kriech Oder: Orientierungshilfe für den Wertekompass“ zusammen. Dazu kommen immer wieder Rückprojektionen und Musikeinspielungen, die den Abend unter der Regie von Katja Blaszkiewitz aus einem Guss erscheinen lassen und ihm wiederholt einen filmischen Sog verleihen.
Die Wärterin ging „wegen der Krankenversicherung“ zum Militär und arbeitete an einem Ort, der mit dem berüchtigten US-amerikanischen Angst- und Foltergefängnis Abu Ghraib beinahe identisch scheint. Anfangs heißt es, dass sie ja nur Fotos gemacht hätte, schließlich kommt heraus, dass ein Gefangener nach ihren Misshandlungen starb. Der Kontext der Wärterin wird massiv mit Bildern unterstützt, zum Teil mit eben jenen Fotos, die 2004 in vielen Medien zu sehen waren. Die Taten der anderen Personen hingegen sind kaum bildlich darzustellen: In der Heimat begegnet der Soldat per Zufall dem Vorgesetzten aus dem Krieg und erschlägt ihn in einer Extremform von posttraumatischer Belastungsstörung im Affekt. Der Manager schließlich war an massiven Börsenmanipulationen beteiligt und wird als „Bauernopfer“ verurteilt.
Alle drei sind nun auf Tour, um in einer Art Bewährungsprogramm den Besuchern von ihren Verfehlungen zu erzählen. Dabei werden Schlüsselszenen ihrer Laufbahnen des Scheiterns mit wechselnden Rollen nachgespielt (Einstellungsgespräch, Verhör, Gebet, militärpsychologisches Gutachten). Doch die drei Figuren verlieren zusehends die Kontrolle über sich und das eigene Weltbild, das sie doch in Form eines „Wertekompasses“ vermitteln sollen. Dabei bietet die Inszenierung bei aller Bitterkeit einige Momente, in denen das Publikum lachen kann. Allerdings taugen diese kleinen Entspannungsplateaus weniger dazu, das ernste Thema abzuschütteln. Mehr als einmal Durchschnaufen ist nicht drin. Sofort geht es weiter steil bergab in zerrüttete Seelenwelten der Protagonisten und noch weiter: an den Abgrund der „westlichen Zivilisation“.
Melanie Lüninghöner, Daniel Seniuk und Hermann Große-Berg spielen ihre vielfach gebrochenen Charaktere mit mehrfach zerbrochenem Weltbild scheinbar bis zur Selbstaufgabe. Vor allem Lüninghöner sieht man die Erschöpfung beim siebten Vorhang auch an.