Foto: Adam Cioffari (Patrokos), Avi Klemberg (Achill) und Mandy Fredrich (Iphigenie) in der Inszenierung von Andrea Moses. © A.T. Schaefer
Text:Joachim Lange, am 2. November 2012
Die Opern von Christoph Willibald Gluck brauchen immer etwas Intendanten-Ehrgeiz, um es auf den Spielplan zu schafften. Respektiert werden Sie allemal. Aber auch gefürchtet. So ganz von selbst gehen sie nicht über die Bühne. Sie wollen zwar immer aufs Grundsätzliche hinaus, aber rein handlungstechnisch passiert nicht allzu viel. Dabei sind gerade die beiden Iphigenien (die in Aulis und dann in Tauris) im Zusammenhang gedacht, eine dramaturgische Herausforderung. In Brüssel hat Pierre Audi das vor drei Jahren versucht, in Leipzig hatte Peter Konwitschny sogar einen Gluck-Ring anvisiert.
Da Jossi Wieler als Intendant und Regisseur in Stuttgart intensiv und erfolgreich nach den interessanten Meisterwerken neben dem Programmmainstream fahndet, ist sein Haus genau der Ort für solche Erkundungen. Das Orchester, der Chor und das Ensemble sind fit für diese Musik. Und seine Chef-Regisseurin Andrea Moses ist die richtige Frau, um die große Staatsaktion mit Göttergebot und Menschentragik auf ein heute nachvollziehbares Maß zu bringen und so an uns heranzuholen. Dabei ist die „Iphigénie en Aulide“ von 1774 noch der relativ harmlosere Teil der Geschichte. Hier kommen alle mit dem Schrecken davon und es fließt kein Blut. Das Grauen liegt in der Bereitschaft des Vaters Agamemnon, seine Tochter abzuschlachten, damit eine kräftige Brise die griechische Flotte nach Kleinasien segeln lässt, um sich dort in einem zehnjährigen Krieg mit den Trojanern die Köpfe einzuschlagen.
Dabei erlebt man ausgerechnet die (durch Hofmannsthal und Strauss in ihrer Elektra) ziemlich übel beleumdete Klytämnestra bei Gluck als eine Mutter, die mit allen Mitteln um das Leben ihrer Tochter kämpft. In Stuttgart lehnt sich die ziemlich attraktive Hadar Halévy mit vokaler Mezzowucht und poltischer Routine gegen Götterwillen und Gattenabsicht auf. Das Trauma, das die urplötzliche Verwandlung des Traualtars in einen Opferaltar für die Tochter bei Klytämnestra bewirkt haben muss, rechtfertigt ihre weitere Karriere zu der vom Sohn gerichteten Gattenmörderin zwar nicht, erklärt sie aber. Zum Teil jedenfalls.
Vor allem um diese menschliche Dimension geht es Andrea Moses. Sie greift im Einheitsbühnenbild von Christian Wiehle auf das Nachvollziehbare ihrer Figuren durch. Sie zeigt sie nicht als sagenhafte Gestalten einer fernen, in der mythischen Morgendämmerung der Zivilisation angesiedelten Vergangenheit, sondern als Akteure zwischen Vernunft, politischem Kalkül und einem inneren Kompass, der längst auf den Menschen als das Maß der Dinge zeigt. Die Bühne ist ein hoher Raum zwischen Lager- und Werfthalle. Mit angeschmuddelter Verglasung. Mit Türen links und rechts. Mit einer umlaufenden Galerie samt Freitreppe nach unten. Auf dem Tisch vorm Sofa an der Rampe ist Platz fürs metaphorische Schachspiel zwischen dem eigentlichen Machthaber Kalchas (Ronan Collett) und Agamemnon. Hier verlangt der Priester vom König das Leben der Tochter. Der beugt sich zum Schein, lässt sie angeblich zur Hochzeit mit Achill nach Aulis rufen, versucht aber gleichzeitig deren Ankunft zu hintertreiben. Wenn die beiden Frauen eintreffen, dann ist das ein Auftritt von der Art, wie er heutzutage gerne fürs Vermischte inszeniert wird. Iphigenie (fundiert und höhenleicht: Mandy Fredrich) kommt als flippige Braut voller Vorfreude, Klytemnästra eher staatstragend, inklusive der typischen Handstellung der Kanzlerin. Davon mal abgesehen bleibt Moses vor allem bei einer genauen, dem dramatischen Fluss der Musik abgelauschten Personenführung. Sie erzählt die Geschichte von Menschen in einer Zwangslage zwar von heute aus (nur die rockartigen Teile der Kostüme und der Griechenlook der Frauen beim Fest, verweisen aufs Historische), doch stets aus dem Inneren der Geschichte.
Da wird Agamemnon (Shigeo Ishino) fast zwischen oktroyierter Staatsräson und Vaterliebe zerrissen. Da gibt Achill (als kurzfristiger Einspringer: Avi Klemberg) den ungestümen, nicht unsympathischen Griechen-Macho, der ganz offensichtlich nicht von seinem sehr vertrauten Busenfreund Patrokolos zu lassen gedenkt, aber gleichwohl bereit ist, für das Leben seiner Braut zu kämpfen. Das geht auf und verleiht der ausführlich zelebrierten Vorfreude ebenso wie dem Umgang mit dem blanken Entsetzen, als es ans Menschenopfern geht, szenische Spannung. Wobei es in dieser Nähe zum selbstbestimmten Leben ein verblüffendes Phänomen bleibt, wie unbedarft und radikal die gerade noch auf ihre Hochzeit versessene Iphigenie in den Opfermodus umschaltet und zur vaterliebenden Todessüchtigen wird.
Das große Schlussbild dann geht unter die Haut. Nicht weil Kalchas es jetzt für sinnvoller hält (oder sich der drohenden Revolte beugt), Iphigenie heiraten zu lassen, statt sie mit der flugs aufgestellten Guillotine zu köpfen; sondern weil die ganze gebeutelte Familie Agamemnon beim Hochzeitstänzchen völlig traumatisiert immer wieder zusammenbricht. Kalchas aber hat sein Ziel im Visier und marschiert jetzt an der Spitze der Soldaten mit martialischen Gehabe voran in die Kriege aller Zeiten. Mit der Guillotine dahinter. Als Symbol dafür, dass auch der Weg zur Freiheit nur durch Ströme von Blut zu erreichen ist?
Musikalisch geht es mit Christoph Poppen am Pult des Staatsorchesters Stuttgart mit erstaunlichem dramatischem Furor und Tempo zur Sache. So wird Gluck als Meister, der den vordergründigen Überwältigungseffekt im Einzelnen nicht braucht, sondern im Ganzen überzeugen will, nicht zum retrospektiven Beispiel eines Übergangs, sondern zum aufregenden Vorläufer für das 19. Jahrhundert. Und nicht nur dafür.