Ruri Ando (Die Nachtigall), Oleksandr Pushniak (Der Kaiser von China) und Nathalie Dinter (vorne) in "Die Nachtigall" am Staatstheater Braunschweig.

Kaltnadelradierung

Igor Strawisnky/Maurice Ravel: Die Nachtigall/Das Kind und die Zauberdinge

Theater:Staatstheater Braunschweig, Premiere:28.10.2012Regie:Paul EsterhazyMusikalische Leitung:Sebastian Beckedorf

Rechtzeitig an Weihnachten denken – das versucht Paul Esterhazy gar nicht erst. Während andere Theater gern Maurice Ravels „Fantaisie lyrique“ über „Das Kind und die Zauberdinge“ oder Igor Strawinskys Adaption des Hans-Christian-Andersen-Märchens „Die Nachtigall“ infantilisieren, dabei ihren Ausstattungsetat ausreizen, die Illusionsmaschinerie effektvoll heißlaufen lassen, Bilderrauschtheater für alle ab 6 Jahren herrichten, das Fabel- und Parabelhafte in Kinderoper-Wunderwelten verstecken, präsentiert das Staatstheater Braunschweig eine sachlich kühl zugespitzte Interpretation. Die Kombination der beiden Opern erweist sich so zwar nicht als zwingend, ist aber inszenatorisch kompromisslos gut erzwungen.

Das beginnt schon bei Strawinskys Partitur: 1908 begonnen, im Debussy-Impressionismus schwelgend, wogend und romantisch schillernd – und dann 1914 im rhythmisch vertrackten, farbenreichen, raffiniert instrumentierten „Sacre“-Stil beendet. Esterhazy sucht keine szenischen Entsprechungen für die disparate Tonsprache, sondern bewahrt sie mit entschlossener Regiehand vor dem Auseinanderdriften. In der Vorlage kommt ein Fischer nach Hause, lauscht dabei betörendem Nachtigallgesang, schenkt ein solches Vögelchen seinem Kaiser (von China), der kurz darauf von japanischen Gesandten eine Singvogel-Maschine erhält. Auf dem Totenbett erkennt seine Hoheit, dass nachgemachte Natur nur schäbiges Surrogat ist fürs Echte. Bei Esterhazy geht es nun aber weniger um unseren Umgang mit Natur, sondern um den mit der Kunst. Denn die artifizielle Delikatesse des Nachtigall-Gesangs einer Opernsängerin ist natürlich das Gegenteil von Natur. Hauptdarstellerin Ruri Ando singt eisig schön timbriert und gibt eine gebeugte Gestalt: halb verhungert, angstgepeinigt. Wie eine frisch auf den europäischen Sexmarkt geworfene Asiatin – oder eine frisch auf den Opernmarkt geworfene Sängerin. Der Fischer und seine Gesellen sind sozusagen Kulturmanager, mit Käscher und Gewehr immer dabei, neue Nachtigallstimmen zu fangen, ihre Kunst in Käfigen (Theatern?) auszustellen. Die freizeitbunt gekleidete Gesellschaft nimmt auf der Bühne Platz, betrinkt sich und speist gelangweilt, lauscht nebenher der Musik. Ruri Ando taumelt, Baguettekrumen sammelnd, über den Esstisch. Statt Tabledance feiert sie koloraturzirzensisch die Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst, während Männerarme sie begrapschen. Diese gehören einem besonders feisten Trinker, der mit Bürgermeisterkette adrett hergerichtet wird, die auch Schützenkönigsinsigne oder Fressorden sein könnte. Während ständig mit ihren Smartphones herumknipsende Japaner einen Geisha-Roboter als Nachtigall-Alternative präsentieren.

In dieser satirisch bösen Tagträumerei hinter schmutzig weißen Gardinenvorhängen wird stumm Ravels Oper vorbereitet, die als lackfolienschwarze Alpträumerei hergerichtet ist. Ohne Text und musikalische Entsprechung lässt Esterhazys bereits in der „Nachtigall“ eine Putzfrau in der schnöseligen Kulturkonsumgesellschaft agieren. Ihr Kind ist derweil allein mit sich, schaut so einsam wie neugierig dem Bühnentreiben zu, vertrödelt die Hausaufgaben, erntet dafür von Muttern eine Backpfeife, flüchtet in ein Märchenbuch, aus dem die Mutter empört eine Seite herausreißt. Diese Szenen tauchen bei Ravel wieder auf, denn genau darum geht es: Kindesvernachlässigung mit den Folgen Wut, Aggression, Unlustzuständen. All die vom Kind traktierten Einrichtungsgegenstände und misshandelten Haustiere gewinnen schließlich Eigenleben, die Schöpfung wehrt sich gegen die Drangsalierung (durch den Menschen). Mit beeindruckend karger Poesie wird die Nummernrevue erfindungsreich in Bewegung gehalten. Figuren schweben herein, huschen vorüber. Wer was spielt, ist aufs jeweilige T-Shirt gemalt. Der „Frosch“-Darsteller bekommt als Accessoire noch eine Fliegenklatsche und imitiert mit Kaugummiblase die aufgeplusterten Backen. Ein Sänger wird zum alten Baum durch Waldschratbart, Handwerkerhose und Krückstock. Lehnsessel und Polsterstuhl geben ein S&M-Paar. Esterhazy aber geht es wohl um die Abrechnung mit der garstigen Mutter. Ihre Abwesenheit, Unduldsamkeit, ihr Empathiemangel lassen den Sohn zum „böse undankbaren Kind“ werden – sie selbst spielt gleichzeitig auch noch den Tod („Die Tödin“ heißt es auf dem Programmzettel). Das Kind muss also gerettet werden: Im surrealen Spiel erlebt es Sehnsüchte, Gewalt, Liebe, Ängste – und Mitgefühl. Wie schon Strawinskys dürstender Nachtigall reicht es dem auch bei Ravel auftauchenden Vöglein ein Getränk. Und heilt die Wunde eines Eichhörnchens. Das arg versöhnlerische Finale bricht Esterhazy gleich wieder, das nun brave Kind ruft nach der Mutter, die schon wieder keine Zeit hat…

Sehr gut passt zur schroff reduzierten Bühnendarbietung die musikalische Leitung von Sebastian Beckedorf. Man könnte sich all die Brechungen, Travestien, vibrierenden Spannungen, aufreizenden Abgründe zwar etwas kräftiger ausmusiziert vorstellen, aber das Staatsorchester Braunschweig überzeugt mit einer klanglichen Kaltnadelradierung, ist spröde genau, leuchtet so die verführerisch undurchsichtigen Partituren bis in die hintersten Winkel aus. Nicht mitreißen wollen, aber beeindrucken können: dafür gab es für alle Beteiligte akkuraten Premierenapplaus.