Text:Marieluise Jeitschko, am 8. Oktober 2012
„Edward Bonds Visionen von Schönheit und Grauen des Lebens werden in diesem Theaterwerk zu einem Menschheitsdrama zusammengefasst: Orpheus fordert die Götter heraus, entlarvt und entmachtet sie mit seinem Gesang und befreit dadurch die Menschen vom Schrecken des Todes, vom Verlust der Liebe, von der Sterblichkeit“, schreibt Hans Werner Henze über sein Ballett. Was Wunder, dass es sich bei derart kopflastiger Entstellung des antiken Mythos‘ wesentlich schwerer tut als seine „Undine“ und einige der Ballett-Einakter. Nach der nicht sonderlich erfolgreichen Uraufführung – 1979 als Auftragswerk des Stuttgarter Balletts in der Choreografie des damals blutjungen William Forsythe – schrieb Henze die Partitur für kleineres Orchester um. Wuchtig und pathetisch wirkt sie stellenweise durch den Einsatz einer Orgel immer noch, aber insgesamt trotz mancher Längen schlank und theatral. Diese sogenannte „Wiener Fassung“ für Ruth Berghaus‘ Inszenierung von 1986 erklingt auch jetzt – vorzüglich! – in Kassel. GMD Patrik Ringborg dirigierte bereits die Deutsche Erstaufführung zu der Choreografie von Heinz Spoerli bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2001 an Henze in Essen und regte die Kasseler Einstudierung an.
Ein Wagnis. Denn der Folkwang-Absolvent Wieland (mit jahrelanger New York-Erfahrung) führt keine Ballettkompanie. Aber er überzeugt immer wieder mit niveauvollem Tanztheater. Als „politische Liebesgeschichte“ beschreibt er Bonds Libretto. Die Kämpfe von Chaos (Schlagwerk) und Harmonie (Streicher) klingen diesmal so ganz anders schlüssig als in Spoerlis neoklassischer Fassung des Balletts, die insbesondere durch die Negierung des hoffnungsvollen Schlusses irritierte. Denn Henze unterstreicht Bonds Idee, Orpheus befriede die Welt durch eine ganz neue Musik, mit einigen wenigen berückt schönen lyrischen Schlussakkorden. Getanzt wird in Kassel mit alltäglichen Gesten und Sprüngen, Reigen-Formationen und Discodance. Streetdance-Sequenzen wirken besonders griffig in Orpheus‘ Verzweiflungs-Solo (unverstellter Zeitgenosse: Rémi Benard). Gott Apoll (Evangelos Poulinas), samt Musengefolge in Glitzergarderobe wie zum Showauftritt, scheint förmlich zu schweben.
Das erste der sechs Bilder zeigt eine antike Ruinenlandschaft. Unbekümmert bevölkern Jugendliche das Areal. Mit kindlicher Scheu umspielen einander Orpheus und Eurydike (zauberhaft jung: Wencke Kriemer de Matos) – bis Randalierer und wilde Tiere hereinstürmen. Brutalität, Vergewaltigung und Mord greifen Platz. Auch Eurydike kommt um. Hades‘ finstere Vasallen reklamieren die Beute. Apoll stellt sich schützend vor Orpheus. An der Bühnenrampe entrollen sich von oben fünf Schnüre – Saiten der Leier, mit deren Erklingen Orpheus zum Friedensstifter werden soll. Wie Henze im 3. Bild Monteverdis „Orfeo“ zitiert, so schlägt auch Wieland mit einer lädierten Apoll-Statue den Bogen zurück zu unseren Altvorderen, findet gleichzeitig unpathetische Bilder aus unserem Heute. Wer sich vom tragischen Orpheus-Bild löst, wird eine kleine Sternstunde zeitgenössischen Tanztheaters genießen können. Denn erst diese Choreografie verleiht Henzes „Ballettmusik“ Glanz.