Foto: Probenfoto zu Laurent Chétouanes "Sacré Sacre du Printemps" im Zollverein Essen. © Robin Junicke
Text:Marieluise Jeitschko, am 28. September 2012
Während alle Welt sich auf das 100-jährige Jubiläum des Klassikers der modernen Tanzgeschichte schlechthin vorbereitet, auf Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, ist der Franzose Laurent Chétouane angetreten, mit der letzten Uraufführung der diesjährigen „Ruhrtriennale“ das Opfer zu opfern. Man spüre die Kraft zum Protest, offenbart er nebulös in einem Interview. Um das Fremde in Natur und Kultur gehe es ihm, um die heikle Balance von Tradition und Integration. Der/das Fremde dürfe nicht seines Eigentlichen beraubt werden, meint der Wahl-Berliner. So erklingt denn, gemäß dem Diktat der Erben Strawinskys, die unveränderte Partitur, die im Mai 1913 in Paris für größte Empörung gesorgt hatte. Beraubt ist die dramatische Musik allerdings des heidnischen russischen Märchens, das Strawinsky ihr zugrundelegt, ergänzt dafür um Originalkompositionen von Leo Schmidthals.
Waslaw Nijinskys Choreografie für die Ballets Russes mutet heute reichlich kunstgewerblich an. Chétouane lässt manche der Gesten dennoch aufleben. Vor allem aber sind Oskar Schlemmers hölzerne Gliederpuppen und sein „Triadisches Ballett“ ganz nah. Die sieben Tänzerinnen und Tänzer treten in dunklen kurzen Hosen und Tops auf. Nur ein Mädchen trägt einen plissierten Hosenrock. Die Füße in grauen Socken, tapsen alle auf Zehenspitzen oder marschieren mit rechteckig abgewinkelten Knien, während die gerade gestreckten Arme dazu schwingen. Oder sie drehen sich wie Windmühlenflügel, werden eckig geknickt. Mit den Handflächen nach oben erinnern sie auch mal – zumal wenn die Köpfe dazu, etwas linkisch, von Seite zu Seite rucken – an indische Tänze. Selten sind weiche Gesten zu sehen. Unharmonisch wirkt das Bild trotzdem nicht. Individuen tanzen hier mit bunt beschmierten Gesichts- oder Halspartien. In den Bewegungen unterscheidet sich keiner vom anderen. Frau ist gleich Mann. Keine Entwicklung ist wahrnehmbar.
Nur auf die drei gleichen mannshohen, weißen Tafeln an den Bühnenseiten fällt gelegentlich schemenhaft ein Licht-Bild. Wie ein ständig bewegtes Perpetuum mobile zieht sich die Vorstellung im völlig überheizten Saal der Zechen-Waschkaue 100 lange Minuten hin. Strawinskys Musik wird umrahmt von Schmidthals‘ Stücken. Sie sind dem großen „alten“ Meister nicht völlig unähnlich, zumal in der Instrumentierung der gelegentlichen kurzen Solopassagen etwa für Flöte, Piccolo oder Geige. Aber die ungeheure Dynamik und Dramatik des Russen fehlt Schmidthals völlig. Chétouanes neue Sicht auf ein Meisterwerk ist mit enormer philosophischer Hintergründigkeit gespickt, wie die Beiträge im Programmheft offenbaren. Nur leider wurde daraus kein aufwühlendes Theatererlebnis. Freuen wir uns also wieder einmal auf Pina Bauschs „Frühlingsopfer“, das im Jubiläumsjahr von „Sacre du Printemps“ von New York bis Taipeh, im Bolshoi-Theater wie am Pariser Uraufführungsort besonders gefragt ist.