Barrie Kosky ist so etwas wie der Event-Manager des Opern-Regietheaters. Ja, sagt er, er bekenne sich zum Unterhaltungspotential des Musiktheaters: Diese ewige, typisch deutsche Unterscheidung zwischen E und U sei doch wirklich zu blöd, warum solle Theater denn nicht auch mal Spektakel sein, zum Musiktheater gehöre doch auch die Revue, die Operette, das Musical. Trotzdem verdankt ihm die deutsche Theaterszene eine ganze Reihe von Arbeiten mit ziemlich markantem und manchmal auch provozierendem Zugriff. „Regietheater“ und Theatersause, neue Oper und alte Opernherrlichkeit: Bei Kosky sind das keine Widersprüche. Und genau diese Umarmungsgeste von so ziemlich allem, bei dem sich singende Menschen zu Musik bewegen, macht er nun zum Profil der Komischen Oper Berlin, wo er mit einem dreiteiligen Monteverdi-Opernevent seine erste Saison als Intendant eröffnet hat – standesgemäß. Über dem ganzen langen Operntag und -abend lag etwas von Lionel Richies „Fiesta“: „Life is good, wild and sweet – let the music play on!“
Um auch als Kritiker mal ganz direkt zu beginnen: Aus dem „Orpheus“ bin ich regelrecht beglückt herausgeschwebt, um dann in den Diskussionen während der langen Pausen zwischen den Opern festzustellen, wie sehr Kosky mit seinem Crossover-Konzept nicht nur das Musiktheater, sondern auch dessen Bewertungs-Kategorien zum Tanzen bringt. So in der Frage, inwieweit Monteverdis Ästhetik als Orientierungsfolie für dieses Event überhaupt tragfähig ist. Denn (ur-)aufgeführt wurden ja nicht die drei Opern „L’Orfeo“, „Il ritorno d’ Ulisse in patria“ und „L’incoronazione di Poppea“, sondern sozusagen drei Coverversionen. Und – um im Genre der Popmusik zu bleiben: da stellt sich die Frage, ob denn Janis Joplin den Song „Me and Bobby McGee“ falsch singt, wenn sie ihn anders singt als dessen Schöpfer Kris Kristofferson. Tut sie natürlich nicht. Ist es also auch hier in Ordnung, wenn der Orpheus mit einem Sänger besetzt wird, der zwar eine tolle Stimme und eine umwerfende Bühnenattraktivität hat, der aber Monteverdis Verzierungstechnik allenfalls in Ansätzen stilgerecht beherrscht?
Die drei Opernfassungen stammen aus dem Soundlabor der 1957 in Taschkent geborenen Komponistin Elena Kats-Chernin, Schülerin u.a. von Helmut Lachenmann und prominent durch ihre Bühnenmusiken für Andrea-Breth-Inszenierungen und Zusammenarbeiten mit dem Ensemble Modern. Wie Kosky ist sie eine stilistische Allrounderin, allerdings mit ausgeprägtem Strukturbewusstsein, die Monteverdis Musikfaktur auf intelligente Weise aufnimmt und klanglich-atmosphärisch transformiert. Dazu dient ihr ein exotisch bunt zusammengewürfeltes Instrumentarium: die westafrikanische Stegharfe Kora etwa, das arabische Zupfinstrument Oud, Akkordeon, Bandoneon, Cimbalon, Banjo, E-Gitarre, Synthesizer… Den Basso Continuo, der bei Monteverdi das harmonische Fundament bildet, lässt sie nahezu unangetastet, überlagert dessen Harmonik aber mit exotischen Klangfarben und additiven Tönen, die, den Blue Notes gleich, die Harmonie atmosphärisch aufladen. Und sie bringt Monteverdi den Swing bei, den Tango, den Csárdás… So werden aus frühbarocken Opern Multi-Kulti-Musicals, mal à la hongroise und mal alla turca, mal exotisch und mal jazzig, die doch ihren Schöpfer Monteverdi in keinem Moment verleugnen. Strukturell ist das raffiniert, und auch das sinnliche Ergebnis macht in „Orpheus“ und „Odysseus“ Freude. Im fester gefügten Spätstil der „Poppea“ allerdings stößt das Verfahren an Grenzen und wirkt gegenüber historischen Referenz-Interpretationen wie der von Harnoncourt ernüchternd fad.
Aber zurück zum Auftakt des zwölfstündigen Spektakels, zurück zum „Orpheus“ morgens um 11 Uhr. Hier gelingt Barrie Kosky und seinem Team (der Ausstatterin Katrin Lea Tag, der Kostümbildnerin Katharina Tasch und dem Choreografen Otto Pichler) eine wunderbare Theaterbezauberung. Schon die Bühne ist grandios: Thrakiens Wälder als exotisches Gewächshaus, schwül vernebelt, in dem es grünt und blüht, und wo jene Nymphen und Satyrn, Tiere und Fabelwesen hausen, die im Laufe des Tages und Abends durch alle drei Opern geistern und toben werden. Wir sehen zuallererst Amor, den Lenker des Geschehens, ein Pummelmännlein im roten Röckchen, niedlich anzuschauen. Ein Mann im schwarzem Straßenanzug schüttet Wasser aus einer Maske, aus der Maske wird eine Puppe wie ein Totenskelett, hinter der Puppe tritt Orpheus hervor, und mit einmal ist alles da, was die Oper von ihren ersten Anfängen an bewegt hat: Musik um Maske, Liebe und Tod.
Und bei Kosky eben auch das Spektakel. Zur eröffnenden Fanfare lassen die Statisten lauter bunte Vögel über den Köpfen der Zuschauer schwirren, die Nymphen und Fabelwesen tanzen und kreischen im kunterbunten Karneval der Tiere, das ist ein festliches Frohlocken und frechfröhliches Gekreische, choreografisch wunderbar vital, dramaturgisch sehr geschickt strukturiert, das unmittelbar in den Liebespreis des ersten Aktes übergeht. Ja, hier wird die Liebe gefeiert. Aber auch die Oper feiert sich selbst, und die Komische Oper feiert sich auch, weil nun endlich alle da sind und es losgehen kann: Let’s have a Party!
Aber nicht nur Party. Später, wenn die Schlange zugebissen hat und Orpheus hinab muss, um seine Geliebte zurückzugewinnen, findet Kosky wunderbare Bilder der Trauer. Orpheus versinkt, umschwebt von Eurydikes weißem Schatten in Gestalt einer weißen Puppe, die von Frank Soehnle wunderbar einfühlsam geführt wird, in tiefer Trauer, er muss selbst zum Schatten werden, um in die Unterwelt vorzudringen, auch sein schwarzes Ater Ego tröstet, trauert, umgeistert ihn. Das ist wirklich stark. Und als er Eurydike tatsächlich wieder heimführt, da ist es nicht geheuer mit ihr. Immer wieder hatte der Sänger den Schein ihrer schönen Augen beschrieben, doch nun glotzen aus ihrem holden Antlitz seltsame Totenaugen auf ihn – das kann nicht gutgehen, denkt man, und es geht ja auch nicht gut.
Die Motive dieses ersten Teils werden immer wieder auftauchen. Als Odysseus sich in den alten Bettler verwandelt, ähnelt seine Augenmaske den toten Augen der Eurydike – sie stehen für Tod und Verderben, aber auch für Mord und Intrige. Der Totenfluss, auf dem kleine Papierschiffchen schwimmen, taucht wieder auf, die Nymphen, aber alles wird immer depravierter, die Naturunschuld scheint verloren. In der „Poppea“ ist der exotische Garten zur Felswüste verödet, die Nymphen und Satyrn sind zu einer gewaltlüsternen Spaßgesellschaft verkommen, der süße Amor mutiert zum kaltweißen Vamp mit Marilyn-Monroe-Perücke. Und als Poppea und Nero fast am Ziel ihrer Liebe sind, da treten sie in einem Duett mit eben jenen Totenaugen auf: Die Liebe ist zum Instrument des Machtkampfes geworden – die Oper heißt ja aus gutem Grund nicht „L’amore di Nero“, sondern „L’incoronazione di Poppea“.
In solchem Beziehungsreichtum und seinem alles überwölbenden und alles wollenden Spektakel-Gestus ist diese Trilogie wirklich stark und irgendwie auch sehr sympathisch. Im Einzelnen allerdings ist manches auch einfach nur ärgerlich. Wie Kosky die Heimkehr des Odysseus als klamottig fuchtelnde Teenager-Schmonzette auf die Bühne rotzt, in der nichts anderes passiert, als dass die Protagonisten ihre Affekte parodistisch überzeichnen, legt den Verdacht nahe, das es bei diesem Kraftakt zu mehr nicht gereicht hat. Ähnliches dann in der „Poppea“. Geschlechtertravestie-Klamauk in den beiden Ammenrollen, Neros erotische Präferenzen wird um homosexuellen Sadismus bereichert, die nackten Busen der Nymphen durch nackte Schwänze in des Kaisers Entourage komplettiert. Wenn das alles konzeptionell motiviert wäre: nichts dagegen! Aber die wunderbare Balance zwischen Spektakel und Melancholie des „Orpheus“ ist Kosky längst entglitten. Und so wirkt die explizite Sexualität nur noch geschmäcklerisch – und so genau muss es dann vielleicht ja auch wieder nicht jeder wissen wollen.
Es ist hier schlicht unmöglich, die weit über 30 Solopartien angemessen zu würdigen. Es ist aber auch schwierig. Man sah und hörte vokal attraktive, bühnenpräsente Sänger: Dominik Köningers charismatischer Orpheus, Günter Papendells düsterer, kraftvoller Odysseus, Ezgi Kutlus würdevoll trauernde Penelope, Tansel Akzeybeks kernig-agiler Telemachos, Roger Smeets zwischen Eleganz und Markigkeit fein ausbalancierter Nero und natürlich Peter Renz als stimmfachübergreifender, allgegenwärtiger Amor. Trotzdem muss man festhalten, dass kaum ein Sänger, auch nicht die Genannten, den Monteverdi-Partien auf stilistischer Augenhöhe gewachsen waren. Es war ja auch nicht Monteverdi, sondern Kats-Chernin, könnte man da sagen, und in der Tat ging vieles im Gesamtkonzept aus Arrangement und Inszenierung auch gut auf. Aber die vokalen Defizite blieben schmerzlich.
Dass Kats-Chernin den Mut zum Messer hat, fand ich dagegen nicht so schlimm, im Gegenteil: Mancher Schnitt, der wie ein abrupter Blackout das szenische Geschehen unmittelbar nach einem Höhepunkt beendete (Odysseus und Penelope beim Kuss – und Schluss!) hatte erfrischend saloppen Witz, und es fehlte nichts, was im Kontext des aufgeführten Formats unverzichtbar gewesen wäre. André de Ridder, Dirigent des Vormittags, Nachmittags und Abends, leistete eine Herkulesarbeit an Konzentration, Animation und Kondition, die Instrumentalisten waren, von einigen Durchhängern abgesehen, mit Präsenz bei der Sache – und 3sat übertrug live im Fernsehen, die Pausenstimmung war launig, der Wille zum Durchhalten allseits sportlich, und am Ende brandete ein Jubel durchs Haus, wie man es lange nicht mehr erlebt hatte. Und da mag man im Einzelnen mäkeln wie man will, aber es ist doch beglückend, wenn Oper so vital zelebriert und aufgenommen wird.