Foto: Laiendarsteller und Publikum in der Gebläsehalle Nord in "FOLK.". © Wonge Bergmann / Ruhrtriennale, 2012
Text:Andreas Falentin, am 27. August 2012
Das Publikum gehört dazu. Beim Eintreten gruppiert es sich, als hätte man es angewiesen, bemerkenswert gleichmäßig um das große, viereckige Planschbecken, das der europaweit gefeierte Performance-Kreator Romeo Castellucci in die ansonsten leere Gebläsehalle gestellt hat. Im Wasser ereignen sich ritualisierte Begegnungen zwischen jeweils zwei Menschen. Immer wieder. Wie in einer endlosen Staffel. Castellucci hat das Bewegungsvokabular eng beschränkt und die Abläufe mechanisiert. Trotzdem sieht man gerne zu. Denn die 100 „Statisten aus der Metropole Ruhr“ strahlen, spielen um ihr Leben, hemmungslos und überhaupt nicht affektiert. Jeder macht es auf seine Weise, geht aufrechter als die anderen, lächelt unschuldiger, schaut anders entsetzt, wenn er aus dem Wasser, in das ihn sein Partner getaucht hat, wieder hoch kommt. Das hat eine Sanftheit, eine zarte Kraft, in der alles liegt: Angst, Sehnsucht, Vertrauen, Einsamkeit. Schönheit. Lange ereignet sich nichts anderes.
Dann erscheinen Schatten, scheinbar fliegend, an den Außenseiten der hohen Fenster wie eine Bedrohung. Wütend scheinen sie Einlass zu begehren, wollen dazugehören, vielleicht herrschen oder zerstören, aber sie gelangen nicht hinein. Laut schlagen sie gegen die Scheiben und absorbieren die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Kette der Partnerrituale im Becken reißt: Eine Umarmung wird verweigert. Das Bassin wird zerstört und zerteilt. Viele Kubikmeter Wasser ergießen sich Richtung Publikum, das in Gruppen zerfällt: Die, die ängstlich die teuren Schuhe ausziehen; die die es lustvoll tun und selbstbewusst herumstolzieren; die, die nichts machen und nass werden, weil sie ja Publikum sind; schließlich die, die sich auf niedrige Podeste an den Stirnseiten des Raumes „retten“ und den anderen zuschauen. Und die Kinder-Jury des „Children Choice Award“, die spontan eine Miniaturwasserschlacht veranstaltet. Minirituale auch auf dieser Seite, sozialer Pseudo-Kitt. Als die Wassermassen versickert sind, hat ein alter Mann ein Formpuzzle vor sich, ein Lernmittel für Kleinkinder. Der letzte Stein, ein Viereck, will sich nicht in die Form fügen. Niemand hilft. Er verzweifelt allein. Ein unangenehm pessimistisches, gleichwohl nachvollziehbares Schlussbild.
Die spannende und intensive Performance wirft hinsichtlich der Verwendung theatralischer Mittel und des Umgangs mit Konventionen durchaus Fragen auf. Wozu bedarf es des Nebels zu Beginn und der an- und abschwellenden, durchlaufenden Sphärenklänge von Scott Gibbons? Benötigt dieses fragile, an sich schon hochemotionale Konstrukt wirklich atmosphärische (Ab)Lenkung, emotionalisierende Impulse, die absolute Vermeidung von Stille? Und warum gönnt man den mutigen Laien-Performern, die hier sicher eine Grenzerfahrung machen, nicht das befreiende Ritual der Schlussverbeugung? So geht der nachdenklich gewordene Zuschauer mit einem unbefriedigenden Gefühl der Leere nachhause. Und das ist dann doch ein wenig zu viel des Gutgemeinten, einfach zu resignativ, ja, zu fatalistisch, angesichts der vielen schönen und wahrhaftigen Augenblicke während der knapp einstündigen Vorstellung.