Foto: Szene mit Rainer Frank, Johanna Banzer, Sebastian Schindegger, Meriam Abbas, Camill Jammal. © Katrin Ribbe
Text:Michael Laages, am 4. Juni 2012
Wer ein Stück Gegenwart zu packen und es dann auch noch handfest für die Bühne in den Griff bekommt, hat gute Karten – gerade in Zeiten, da das Theater laut wie lange nicht nach Stücken zur Stunde ruft, angesichts von Weltwirtschaftskrise, arabischem Frühling und immer noch Kriegen weltweit. Jan Neumann, sehr präsent auf vielen Bühnen und mittlerweile oft auch Regisseur eigener Texte, macht im jüngsten Stück ein Hinweisschild an der Autobahn der Welthauptstädte zum Titel: „Bagdad 3260 Kilometer“. Das wirkt weit weg, zum Glück – aber ist das wirklich so?
Neumann hat sich nicht dazu verstiegen, arabisch-islamischen Alltag herbei zu phantasieren – vielmehr erlebt das hannoversche Publikum in knapp zwei Stunden den Angriff der wilden Fremde auf die heimische Gemütlichkeit; weit weg waren Bagdad und die Wirren der Nachkriegszeit dort nur bis zu dem Moment, da die Schreckensbotschaft kam: dass eben dort in Bagdad der Vater von Samira entführt worden ist. Die ist Mitte 30, wuchs in Deutschland auf und kennt die Heimat des Vaters nur noch aus der Dia-Show. Nun organisiert sie das Lösegeld, und tatsächlich kommt Papa nach zwei Wochen frei.
Das ist der Plot, aber nicht die Story. Die handelt von all jenen, denen Samira auf der Suche nach Rettung für Papa begegnet: von den Müttern bei der nachgeburtlichen Gymnastik, in deren Kreis Samira der Anruf ereilt; von den demonstrativ dummerhaften Polizisten, die sie als erstes mit dem Fall befasst; vom quasi-irakischen Gemüsehändler an der Ecke, der zwar aus Berlin-Spandau stammt, aber Leute kennt, die Leute kennen mit Beziehung zum Irak, und von all den durchgeknallten Typen, die dieser Gemüsemann nun als Helfer herbeischafft. Die Geschichte handelt von Teppichhändlern und deren verschwiegenen Geschäften, von toten Taxifahrern im Irak und sehr viel Einsamkeit in Deutschland.
In diesem Panorama kommt Neumann allerdings immer vom Hölzken aufs Stöcksken, er fabuliert ohne Rand und Band – wie aus Tausendundeiner Nacht: mit einem Stückchen Geschichte für jede Figur. Und mit dem nur fünf Köpfe starken (sehr starken!) Ensemble in Hannover erzählt er diese Geschichten mit Emphase und Sympathie. Als Regisseur seiner selbst gelingt ihm zudem das Kunststück, sich selber und den eigenen Text nicht unbedingt beim Wort zu nehmen. Denn zwar mutet das Stück höchst dokumentarisch an, nicht nur weil es auf einem tatsächlichen Fall basiert, sondern dessen Fakten auch noch mit Datum und Uhrzeit versieht, so oft es geht. Gleichzeitig aber zeigt die Inszenierung nie wirkliche Bilder – wie um das Schopenhauer-Zitat vom Beginn zu beglaubigen, das vom unfassbaren Willen handelt und von der frei vagabundierenden Vorstellung. Niemand tut hier wirklich, was er sagt; und die Stühle in Dorothee Curios Bühne hängen an Zügen unter der Decke. Im Zentrum steht schräg ein weißer Schrank, der alles ist, alles sein kann: Wohnung, Garderobe, Requisite; Leben und Raum. In diesem Schrank lebt das Land, von dem Neumann erzählt. Alles ist weit weg, und von der Welt drum herum weiß das Land im Schrank nicht viel.