Foto: Nino Burduli und Ron Zimmering in "Kokoro" am Staatstheater Saarbrücken © Thomas M. Jauk
Text:Rainer Nolden, am 21. Mai 2012
Ein Schwan, ein Karussellpferd, ein Schiff mit einem furchteinflößenden Wikinger-Drachenkopf, ein weit aufgerissenes Krokodilmaul, Schienenstücke einer Eisenbahn, eine Kette mit bunten Glühbirnchen, ein Wegweiser mit seltsamen Ortsangaben: Joschi, Heimat, Marzipan, Baby… Orte, die keinen geografischen Punkt meinen, sondern kurze Momente von Glück, längst vergangenem und sehnlichst erhofftem. Auf diesem Rummelplatz des Lebens (Bühne: Julia Bührle-Nowikowa) kreuzen sich die Wege von neun Menschen: ein Obdachloser, eine alte Revuetänzerin, ein Transvestit, eine hochschwangere Siebzehnjährige, eine Literaturwissenschaftlerin, die als Putzfrau arbeitet, ein Entwicklungshelfer, der mehr das eigene Gewissen beruhigen als die Welt retten will, die ökologisch bewegte Menschenfreundin, der korrumpierte Politiker und seine frustrierte Ehefrau. Sie alle sind irgendwie Gestrandete, Verlorene und Suchende.
Insgesamt neun Lebensläufe schildert Nino Haratischwili, die auch für die Regie verantwortlich zeichnet, mit knappen, präzisen Strichen. Jeder lebt für sich allein, so erscheint es zunächst. Was sie miteinander verbindet, zeigt sich erst im Laufe des Abends, der ganz allmählich nur in Bewegung gerät, doch dann umso stärker in seinen Bann zieht. Irgendwann beginnt man sich immer mehr für diese seltsamen, tragischen, grotesken Charaktere zu interessieren. Ein geschickt gewebtes dramaturgisches Netz nimmt den Betrachter regelrecht gefangen: Auf einmal hängt alles mit allem zusammen, Beziehungen werden offensichtlich, und die rätselhaften Verbindungen werden über die kulturellen und sprachlichen Grenzen hinweg sichtbar. Die Figuren sind Mütter, Söhne, Liebhaber; sie wecken Erwartungen und sie enttäuschen. Reisen führen ans Ziel, Freundschaften werden geschlossen, eine Ehe endet in Hoffnungslosigkeit.
„Kokoro“ ist ein Stück über Verständigungsschwierigkeiten zwischen Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, und die wundersame Fähigkeit, einander zu verstehen, wenn man eben dies nicht tut. Das Werk ist eine Auftragsarbeit an die in Hamburg lebende Autorin; drei georgische und sechs deutsche Schauspieler(inne)n agieren jeweils in ihrer Sprache, und sie verstehen sich doch (die deutsche Übersetzung der georgischen Passagen wird auf eine Leinwand projiziert). Romantisch ausgedrückt: Verständigung ist nicht unbedingt eine Sache der Sprache, sondern des Herzens.
„Wussten Sie“, fragt der obdachlose Clown, der für kleine Münze sein Wissen über die Weltliteratur feilbietet, ziemlich am Ende des Abends, „dass die Japaner einen Ausdruck haben, der so etwas wie das Herz aller Dinge bedeutet? Sie nennen es Kokoro. Und wenn das Gleichgewicht aus den Fugen gerät, dann erwacht Kokoro, dann rächt es sich… Alle Kriege und Katastrophen… sind Tränen von Kokoro.“
Es ist eine bemerkenswerte Inszenierung, die trotz babylonischer Sprachverwirrung (ein bisschen Englisch wird auch gesungen) wie aus einem Guss ist. Das Ensemble ist ausgezeichnet aufeinander eingespielt, jeder reagiert hellwach auf den anderen – fast, als verstünden sie die fremden Laute. Ein sehenswerter Abend.