Foto: Szene aus dem Lustspiel "Herminie" in Bielefeld. © Philipp Ottendörfer
Text:Jens Fischer, am 14. Mai 2012
Ein Sofa zum In-Ohnmacht-Fallen, eine Lampe zum Dagegenlaufen und drumherum eine bühnebegrenzende Wand als Rahmen und Halt für 20 Türen. Schon nach vier Aufführungsminuten hat die Dame dieses Bühnenbildhauses (von Annette Breuer) den ersten Mann im Kleiderschrank verstaut, wenige Minuten später krümmen sich hinter drei weiteren Türen potenzielle Gatten und Liebhaber. Wenn einer herausstolpert oder –fällt, plättet die dabei aufspringende Tür zumeist die Nase eines weiteren Mannes.
Michael Heicks’ Inszenierung von Claude Magniers „Herminie“ setzt auf das Genre turbulentes Lustspiel: dick aufgetragener Nonsens von gestern. Das Stottern einer Figur wird dabei veralbert, auch die Hässlichkeit einer anderen und Trunkenheit als taumelnde Lallnummer genauso vollkaracho bedient wie die Situationskomik der Verwechslungsklamotte – in jeder Panikpause lauert schon die nächste Katastrophe hinter den Türen. Besinnungslos bis zur Sinnfreiheit. Die Regie muss einen Dreh finden für den dauernden Dreh in der Geschichte und die wilden Wortwechsel. Das Kleid der Hausfreundin im Stil der abstrakten, mathematisch ausgefuchst komponierten Farbflächen-Malerei von Piet Mondrian legt eine Assoziation nahe: Hier geht es um das rein formale Spiel mit der Mechanik des bürgerlichen Lachtheaters.
Hochtourig kreiselnd, nach Absurdistan entführend. Ähnlichkeiten mit einer uns bekannten Realität wären dann rein zufällig. Aber so funktioniert es nicht. Immer wieder funkeln Themen auf, die sonst auf deutschen Bühnen durchaus für aktuell gehalten, in unserer Realität verortet werden. Zum Beispiel die Beweisführung, dass Herminies Selbstverständnis, „normalerweise führen wir ein ganz bürgerliches Leben“, eine Selbsttäuschung ist. Denn ihr wie alles Leben entstammt dem Chaos und strebt dorthin zurück. Davon könnte das Stück erzählen – da wie im Horrorfilm die Bedrohung von Szene zu Szene wächst, immer größer wird die Unordnung. Herminies zunehmende Überforderung, dieses zu verhindern, hätte dann tragikomische Züge. Zudem ist ihr Ehemann Alfred ein Schriftsteller von der lächerlichen Gestalt, als „Dumbo“ wird er verhöhnt – und in die Klauen der Schönheitschirurgie getrieben. Auch als zeitgeistiges Sittenbild einer Gesellschaft rücksichtsloser Egoisten ließe sich „Herminie“ lesen: Jede Art von Mitgefühl, Freundschaft, Ehe, Treue etc. ist lediglich als Heuchelarie zu erleben. Etwas Blut quillt in die Adern der Figuren nur, wenn mal eine Männer- oder Frauenhand zwischen den Schenkeln eines zufälligen Sitznachbarn ratlos herumfingert.
Geradezu sommernachtsträumend existenzialistisch wirken die Verwirrungen angesichts ständig wechselnder Verkleidungen, Identitätsbehauptungen und Sterbensszenarien, so dass schließlich niemand mehr so recht weiß, wer er/sie eigentlich ist und wen warum gerade zu lieben vorgibt. Mit diesem Strudel der Ambivalenz könnte der Theaterbesucher sein Hirn beschäftigen, während die Aufführung pausenlos um Lachattacken buhlt.
Denn auch das funktioniert nicht so richtig. Die Inszenierung setzt zwar auf Schnelligkeit, ist aber eher hektisch denn rasant rhythmisiert. Eleganz, Esprit, selbstverständliche Virtuosität fehlen bei dieser Massenkarambolage irrwitziger Typen und Temperamente – zu sehen ist die harte spielfreudige Arbeit an der Leichtigkeit. Das Ensemble kämpft, gibt alles, ist auch lustig, aber es sieht eben immer angestrengt aus – und macht das Zuschauen anstrengend. Wer so eine Spielplanposition wagt und einen ähnlich hyperventilierenden Gute-Laune-Regieansatz wählt wie der manisch-hysterische Jux-Akrobat und Slapstick-Weltmeister Herbert Fritsch, der muss sich den Vergleich gefallen lassen mit dessen Magnier-, Curt-Götz-, Moliere-, Arnold/Bach-, Labiche-Inszenierungen – und Michael Heicks verliert ihn deutlich, domestiziert die Komikeskalation nur zur leicht überdrehten Sommerkomödie.