Foto: Birgit Beckherrn als Montezuma in Inga Levants Inszenierung von Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexico“. © STAGE PICTURE GmbH / Björn Hickmann
Text:Detlef Brandenburg, am 26. April 2012
Natürlich ist man in diesen Tagen geneigt, Wolfgang Rihms vor 20 Jahren in Hamburg uraufgeführtes Musiktheater „Die Eroberung von Mexico“ primär unter dem Aspekt eines „Clashs of Cultures“ zu lesen. Immerhin geht es ja um den Einfall der spanischen Konquistadoren in das Aztekenreich Montezumas II. und damit um eine der krassesten Konfrontationen gegensätzlicher Kulturen, die die Weltgeschichte erlebt hat. Doch der Komponist, der 1992 ein Referenzwerk der Musiktheater-Avantgarde schuf und heute zu den bedeutenden Häuptern der neuen Musik zählt, legt noch eine andere interpretatorische Fährte. Er bezieht sich nämlich in Stoffwahl, Librettocollage und Dramaturgie auf zentrale Texte des französischen Theaterradikalisten Antonin Artaud, der mit seinem zwischen 1926 und 1935 formulierten „Theater der Grausamkeit“ zu einem der Begründer von Performance- und Happeningkunst wurde. Rihms brutale, mythisch-symbolistische Beschwörung des Aufeinandertreffens von Montezuma und Hernán Cortéz ist insofern auch ein Versuch, diese rauschhafte Theaterkonzeption Klang werden zu lassen. Und genau hier nimmt die Regisseurin Inga Levant – im Bühnenbild von Roni Toren und den Kostümen von Petra Korink – den Komponisten beim Wort. In Saarbrücken zeigt sie, wie die Avantgarde der Fluxus- und Happening-Kunst den gesitteten Konzertsaal erobert: beginnend mit einer scheinbar ganz regulären konzertanten Aufführung als „Vorzeichen“ (so der Titel des ersten Teils von Rihms Komposition) bis hin zur „Abdankung“ (letzter Teil) der traditionellen Kunstform.
Anfangs also sehen wir auf der Bühne des Saarländischen Staatstheaters das Orchester im Interieur eines traditionellen Konzertsaals, der in seiner Schuhschachtelform, mit Holzvertäfelung und Konzertorgel hinten, entfernt an den Wiener Musikvereinssaal erinnert. Und wir sehen (und hören zudem von den Rängen) Orchestermusiker in Schwarz und Solisten in Abendrobe, die Rihms düster rumorende, atmosphärisch dichte „Vorzeichen“ eindrucksvoll Klang werden lassen. Doch nach dem ersten Zwischenspiel auf eine Gedichtstrophe von Octavio Paz folgt das erste Irritationsmoment in Gestalt des Schauspielers und Performers Boris Pietsch. Er, ganz Künstlertyp mit offenem Hemdkragen, Wuschelhaar und akrobatisch überdrehter Körpersprache, ist sozusagen der Avantgardist provocateur der Inszenierung, der zunächst zentrale Thesen Artauds – nein, nicht rezitiert, sondern herausbrüllt, um dann die Auflösung des vornehmen Konzerts im Happening zu stimulieren, inklusive der Demontage des Konzertsaals.
Und so wird die Veranstaltung immer wilder, immer wirrer. Parolen aus Fluxus und Performance erscheinen auf Plakaten, Pietsch-„Artaud“ animiert Orchestermusiker und Sänger zu dadaistischen Kunstaktionen, und weil die schon immer ihre pop-ironischen und ethno-wilden Momente hatten, passen auch Montezumas Folklore-Regenbogen-Kleid oder Cortéz’ Konquistadoren-Helm und Harnisch bestens in dieses Happening. Musiker wie Zuschauer erweisen sich unversehens als Statisten, eine Tuba wird mit Wasser begossen, mitten im Parkett schreit plötzlich eine Frau schrill auf, in der ersten Reihe erheben sich Komparsen und entledigen sich ihrer Abendkleidung, um teils verspielt, teils poetisch, teils messerschwingend drauflos zu performen. Man findet Anspielungen auf Nam Jun Paiks Cello-Aktionen mit Charlotte Moorman, auf Joseph Beuys’ „Jeder-Mensch-ist-ein-Künstler“-Attitüde, Oskar Schlemmers Triadisches Ballett, Hermann Nitschs Blut- und Schlachtaktionen und auf was nicht sonst noch alles…
Und es ist schon eine pfiffige Idee von Inga Levant, an einem solchen Referenzwerk des zeitgenössischen Musiktheaters den Kampf der Avantgarde gegen die Konvention zu simulieren. Das Ergebnis ist ein ebenso vitaler wie witziger, ja parodistischer Theaterabend – mit dem kleinen Schönheitsfehler allerdings, dass hier das Werk vom Zweck zum Mittel wird. Rihms so anspielungsreiche wie schillernde Ästhetik des Vagen, seine Fragen nach der Dialektik von Fremdheit und Eigenheit, nach dem spiegelbildlich defizitären Verhältnis der Kulturen und Geschlechter, und ja, auch die ganz eigene Schönheit dieser großartigen Musik – all das geht im Aktionskunstfuror unter. Und das ist nun doch schade, weil dadurch dem ebenso brillant wie klangsinnlich spielenden Orchester unter Thomas Peuschel und den ausgezeichneten Solisten (der Chor kommt von den 1992 in Hamburg produzierten Bandaufnahmen) eine Menge Aufmerksamkeit entzogen wird. Da ist Birgit Beckherrn eine Montezuma-Mannfrau mit schönem dunkelmetallischem Timbre und wunderbar atmender Phrasierung, deren Melismen von der Stratosphären-Sopranistin Nili Riemer und der satt timbrierten Altistin Judith Braun in eine wunderbare Klanggloriole gefasst werden. Und James Bobby gibt dem Cortéz einen markig timbrierten, agilen Bariton.
„Ich schlage vor, mit den Zuschauern wie mit Schlangen zu verfahren, die man beschwört…“ ruft Artaud irgendwann in den Saal. Doch dieser Appell verhallte (nach einer gut besuchten Premiere in Anwesenheit des Komponisten) bei der zweiten Vorstellung im gähnend leeren Parkett. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen auch Inga Levants provokativem Avantgarde-Appell die Resonanz fehlte. Über das Konzept der Regisseurin mag man streiten – nicht aber darüber, dass diese mutige und engagierte Produktion mehr Beachtung verdient hätte.