Foto: Szene mit Blythe Newman (Momo) und dem Ensemble. © Jochen Klenk
Text:Eckehard Uhlig, am 23. April 2012
Das unbekümmert in den Trümmern eines antiken Theaters hausende Waisenmädchen „Momo“ bringt den Menschen die Zeit zurück. Deshalb ist Michael Endes gleichnamiger Märchen-Roman Kinder- und Kultbuch geworden. Und deshalb berührt Tim Plegges kongenial in die Sprache des (neo-)klassischen Tanzes übertragenes „Momo“-Ballett, das am Badischen Staatstheater seine begeistert gefeierte Uraufführung erlebte, alle Generationen.
Äußerlich entspricht die Karlsruher Momo überhaupt nicht der auch vom Film geprägten Vorstellung des „Wuschelkopfes“ in abgetragener, notdürftig zurechtgestutzter Flicken-Kleidung. Die Solistin Blythe Newman präsentiert sich mit baumelndem Pferdeschwanz. Ihr lustig flatterndes Röckchen strahlt blutorangerot, ihre hübsche Bluse ist hauchig gelb. Sie hüpft und tändelt verspielt zu Ländler-Musik mit ihren von Kostümbildnerin Judith Adam ebenfalls bunt ausstaffierten Freunden Beppo (Flavio Salamanka) und Gigi (Zhi Le Xu) um die Wette: Momo im Glück.
Gleichwohl liegt schon zu Beginn des Handlungsballetts zarte Melancholie über den zirzensisch drolligen, auch eckig und hampelig agierenden Figuren. Diesen gefühlten Schatten bewirkt offenbar das aus geometrisch-flächigen Elementen gestückelte, kühle Kulissen-Design (Bühne Sebastian Hannak), durch dessen Spalten mit Sirenen-Signalen die hektische Welt der businesslike gekleideten „Grauen“ (hier Herren und Damen) bedrohlich in die Idylle einbricht. Die alerten Managertypen stehlen mit ihrer auf Effizienz getrimmten Arbeitswut die Zeit – gegrätscht hinter genormten Bürotischen und im gehetzt zackigen Tempo-Schritt. Sie vernichten mit ihrer Anmache alle Liebe und ziehen sogar die Spielgesellen Momos auf ihre Seite.
Immerhin gelingt es der liebreizenden Mädchenfrau, den auf sie angesetzten Agenten der Grauen (Arman Aslizadyan) in einem hinreißend naiven Paartanz, der pantomimische Stilmittel einsetzt, zu betören. Letztendlich aber bringt Kassiopeia (Shiri Shai), deren eigenartiges Outfit (Rennfahrer-Kopfbedeckung, schwarze Frackschöße und Samtshorts) Widersprüche aufzeigt, zusammen mit ihrer „entschleunigt“ klappernden Schildkröten-Marionette die Heldin Momo zum Ursprung aller Zeit. Hier ereignet sich das Glanzstück des Plegge-Balletts: Im Abendsonnenschein leuchtet ein zauberhaft ausgeformter, romantisch sinnlicher, auch auf der Spitze getanzter Reigen seliger Elfen-Geister. Zu denen gesellen sich wild kreiselnde Derwische, die die Mädchen über ihre Schultern hängen. Alles angeführt vom Traumpaar der in Frau und Mann verdoppelten Horen (Bruna Andrade und Adnill Kuyler), die mit einem Pas de deux der Extraklasse, mit ästhetisch fein ausgefeilten Arabesken und Hebefiguren auftrumpfen.
Eine Fülle origineller Choreographie-Einfälle zu einer geschickt zusammengestellten Musik-Collage (mit Kompositionen von Auerbach, Currier, Glass, Richter, Schnittke, Schostakowitsch, Sumera, Vasks und Zimmermann) führt die neu erzählte Geschichte zum Happy End, beispielsweise Momos temperamentvoll über die Tische der grauen Workaholics fegende Solo-Einlage. Nach seinem „abendfüllenden Erstling“ wird Tim Plegge, ein Schüler aus John Neumeiers Ballettschule und Assistent von Christian Spuck, noch von sich Reden machen.