Foto: Maike Rosa Vogel und Ronald Kukulies in "Der kleine Bruder" am Berliner Maxim Gorki Theater. © Thomas Aurin
Text:Reinhard Wengierek, am 2. April 2012
Sven Regener, Musiker, Sänger und Dichter der Berliner Band „Element of Crime“, schrieb die kultige, teils von Leander Haußmann verfilmte und dramatisierte (bat Berlin) Romantrilogie „Herr Lehmann“, „Neue Vahr Süd“, „Der kleine Bruder“. Sie zeichnet auf tragikomisch-groteske Art mit spitzer Feder leichthin ein treffliches Sittenbild vom extrem-alternativen Stadtteil Kreuzberg im Westberlin der Zeit vor und nach dem Mauerfall. Jetzt hat Milan Peschel im Berliner Gorki Theater „Der kleine Bruder“ inszeniert und das Achtziger-Jahre-Paralleluniversum der dilettierenden Künstler, Groupies, Hausbesetzer und Kneiper, in dem sich der Kleine aus der Bremer Provinz verirrt, in zünftigen Schmuddelfarben dick und breit ausgepinselt.
Die Essayistik des Programmheftchens feiert noch den Kreuzberg-Mythos vom „radikalen Anderssein“, das vorm Mauerfall „zum Hoffnungsträger einer wirklich anderen Gesellschaftsform wurde“. – Peschel, der Castorf-Schauspielstar und talentierte Castorf-Regieschüler, ignoriert klüglich derartiges Gerede. Sein Rückblick installiert ein so grelles wie plattes Panoptikum brutal-egomanischer, verlogener, partysüchtiger Schnorrer-Existenzen, die mit Schlagworten wie „alternativ“, „authentisch“, „kreativ“ ihr armseliges SO36-Spießertum verbrämen. Da zieht eine Blase saufend, kreischend („Arschloch!“, „Wichser!“, „Scheiße!“) und fickend um die Häuserruinen und stellt den Schnickschnack ihres „Arsch-Art“-Kitschgewerbes eitel aus als Großkunst. Peschels Drehbühnen-Panorama zeigt diese armselige, orientierungslose, traurig verlorene Bürgerschreck-Jugend in versifften, aber stimmungsvollen Wohnküchen (Ausstattung: Magdalena Musial). Untermalt wird der Krachbums-Comic-Betrieb mit absurd-endspielhaften Zügen von süffigen Songs zur E-Gitarre (Maike Rosa Vogel). Die tolle, super trainierte und wüst drauf los plappernde Schauspielsportmannschaft mit Paul Schröder, Ronald Kukulies, Peter Kurth, Holger Stockhaus, Regine Zimmermann, Michael Klammer und Sabine Waibel keucht perfekt! Es wäre ein artistisch wütendes Kunststück, hätte die Regie das Toben auf der Stelle, also den rasenden Stillstand („Hier macht jeder seinen Scheiß; scheißegal!“) nach höchstens 90 Minuten beendet.
Doch Milan Peschels Verliebtheit in den Endlos-Exzess des Welt- und Selbsthasses, sein unermüdliche Plakatieren des immergleichen, aberwitzigen Elends – es kommt mit Pause auf knapp vier ausgeleierte Stunden –, das macht diese Alt-Kreuzberger Nacht zwischen U-Bahn Kottbuser Tor und Görlitzer Bahnhof so ätzend langweilig.