Foto: Timo Tank und Hannes Fischer in "Auf Kolonos". © Jochen Klenk
Text:Elisabeth Maier, am 23. März 2012
Auf dem Grabhügel Kolonos ist König Ödipus angekommen. Am Ende des Lebens erfährt er, was Fremdsein heißt. Der Karlsruher Komponist Wolfgang Rihm, der kürzlich seinen 60. Geburtstag feierte, reibt sich an klassischen Stoffen. Textfragmente des antiken Dichters Sophokles, Hölderlins und Nietzsches inspirierten ihn zu ebenso komplexen wie farbigen zeitgenössischen Kompositionen. Wunderbar spiegelt seine Musik die tragische Fallhöhe des Helden.
Mit diesen Kompositionen hat der Regisseur Laurent Chétouane am Staatstheater Karlsruhe ein spartenübergreifendes Projekt realisiert, das verstört. Dass die Zuschauerreihen nach der Pause sichtbar leerer waren, ist dem bedauerlichen Unvermögen des Regieteams geschuldet, Gesang, Tanz und Schauspiel zu einem griffigen Ganzen zu verknüpfen. Chétouanes Szenarien der Langsamkeit erschließen ungewöhnliche Blicke auf Text, Musik und Choreografie. Doch sie haben etwas Verwirrendes. Mit bedachten, sparsamen Gesten bewegen sich die Schauspieler im Raum. Das wirkt zu statisch, als dass sie dabei lustvoll neue Textebenen erkunden könnten. Worte sterben in einer kalten Welt. Technisch exakt zerlegt der französischstämmige Regisseur, der auch ein Ingenieurstudium absolviert hat, die zerklüftete Sprache der Dichter. Für Sophokles’ Tragödie hat er die Übersetzung Peter Handkes gewählt. Die Schauspieler schaffen es nicht, emotionale Lücken zu schließen, die der Vatermörder Ödipus im Leben seiner Familie aufreißt.
Das Manko überbrückt die Choreografie: Wut und Hass seiner Töchter Antigone und Ismene, die er mit seiner eigenen Mutter zeugte, übersetzt die Tänzerin An Kaler in klare Bilder. Von der minimalistisch genau gezirkelten Bewegung bis zum expressiven Ausdruckstanz reicht das Spektrum der knabenhaften Künstlerin. Senem Gökce Ogultekin tanzt sich virtuos in einen Angsttraum hinein. Markus Selg hat die offene Bühne des Kleinen Hauses mit einer betonfarben bemalten Leinwand verkleidet, die den Apparat teilweise verhüllt. In dieser Leere thront überlebensgroß ein Wanderer ohne Kopf. Mit Stroh und einem Stein schafft Selg einen Spielraum, der die Szenerie strukturiert. Sophie Rebles klassisch-schlichte Kostüme korrespondieren ideal. Das helle Licht, in dem die Schauspieler agieren, erstickt die Atmosphäre.
Dass Chétouanes Konzept nur bedingt aufgeht, liegt auch daran, dass die dreieinhalbstündige Inszenierung extreme Längen hat. Statt einen Draht zum Publikum zu ertasten, verrennen sich die Schauspieler in der Leere. Gerade Timo Tank vermag Ödipus’ innere Kämpfe nur unscharf zu zeigen. An vielen Stellen täte eine straffere Dramaturgie Not, um Chétouanes bemerkenswerte Theatersprache zu vermitteln. Mehr Tiefgang erreicht Dirigent Wolfgang Wiechert in den musikalischen Passagen. Das Herzstück „Kolonos“, das Wolfgang Rihm 2008 für das Festival „Rossini in Wildbad“ schrieb, spielt das Orchester der Badischen Staatskapelle pointiert und stark. Brilliant ist die Interpretation des Countertenors Hubert Wild. Im Dialog des Ödipus mit dem Wanderer bringt der feingliedrige Opernsänger, dessen stimmlicher Nuancenreichtum besticht, das Gefühl des Fremdseins auf den Punkt. Und auch der kantige Bariton Gabriel Urrutia Benet vermittelt, begleitet vom experimentierfreudigen Streichorchester, die bedrohliche Atmosphäre, in der Ödipus untergeht.