Foto: Szene aus "Maria Tudor" am Stadttheater Gießen. © Rolf K. Wegst
Text:Wilhelm Roth, am 19. März 2012
Das erlebt man selten in einem deutschen Openhaus: Heftiger Beifall und „Bravi“-Rufe schon nach dem ersten Duett. Das setzte sich den ganzen Premierenabend so fort. Nach drei Stunden Jubel für eine Oper von 1843, die 169 Jahre später in Gießen ihre deutsche Erstaufführung erlebte, „Maria Regina D’Inghilterra“, deutscher Titel: „Maria Tudor“, von Giovanni Pacini. Entdeckt wurde eine Belcanto-Oper voller Emotionalität und Wucht. Das Theater Gießen hat sich wieder einmal bewährt als Wiederentdecker vergessener Opern.
Der Sizilianer Giovanni Pacini (1796 – 1867) schrieb gut 70 meist äußerst erfolgreiche Opern, die heute niemand mehr kennt. Selbst seine wohl besten Werke wie „Saffo“, „Medea“, „Maria Tudor“ (komponiert in 23 Tagen) und „Lorenzini de Medici“, verschwanden schnell wieder aus den Theatern, als Verdi zur zentralen Figur wurde. „Maria Tudor“ entstand in einer Zeit des Übergangs, noch dominierte der Schöngesang, aber die Musikdramatik kündigte sich bereits an. Der Stoff, den Pacini hier behandelte, bot reiche Entfaltungsmöglichkeiten.
Pacini orientierte sich nicht an der historischen englischen Königin Maria Tudor (1516 – 1559), sondern an dem Schauspiel „Maria Tudor“ von Victor Hugo, das die Titelheldin in eine fiktive Figur verwandelte. Der 1.Akt aber gehört Clotilde, die im Haus des Arbeiters Ernesto aufgewachsen ist, der sie auch heiraten will. Doch er hat einen Nebenbuhler, Fenimoore, einen Günstling der Königin. Clotilde ist völlig hin und her gerissen zwischen diesen beiden Männern. Im 2. Akt überschlagen sich die Ereignisse. Maria und Clotilde treffen aufeinander. Es stellt sich heraus, dass Clotilde die einzige überlebende Erbin des hingerichteten Earl of Talbot ist. Fenimoore und Ernesto werden schwerer Verbrechen beschuldigt, beide trifft das Todesurteil. Die Musik steigert sich in enorme Hitzegrade, die den Liebesschwüren und Verzweiflungstaten die eigentliche Dramatik verleihen. Die vier Protagonisten sind diesen Ausbrüchen glänzend gewachsen, Giuseppina Piunti als Maria Tudor, Maria Chulkova als Clotilde, Leonardo Ferrando als Fenimoore und Adrian Gans als Ernesto. Das Orchester unter Eraldo Salmieri begleitet die Belcanto-Schlacht hellwach.
Der 3.Akt überrascht danach mit leiser Musik, bestimmt von der Vorahnung des Todes. Die Handlung changiert zwischen Liebe und Zweifel, Verrat und Rache. Die Emotionen von Maria und Clotlide werden intensiver, sind aber nun mehr nach Innen gerichtet. Hier zeigt Pacini seine Meisterschaft, auch mit subtilen Mitteln zu arbeiten. Diese Stimmung kulminiert in einem kleinen Trauermarsch, der die Verurteilten zur Hinrichtung begleitet. Die große Schlussszene von Maria ist dann aber wieder Belcanto pur, eine Bravourarie. Nachdem alle ihre Pläne zuschanden geworden sind, wendet sich die Königin Gott zu, sucht Vergebung für ihre Untaten, glaubt schon einen Lichtstrahl der Vergebung zu sehen, aber die Regie konterkariert diese Hoffnung, sie leuchtet die Bühne rot aus, das ist nicht der Himmel, sondern eher die Hölle. Der Regisseur Joachim Rathke und der Bühnenbildner Lukas Noll haben dieses Finale klug und zuerst fast unmerklich vorbereitet. Die dunkle Drehbühne mit ihren Torbögen wird immer mehr zum Kerker, zum Labyrinth, die Menschen sind eingeschlossen in ihren Leidenschaften, ihrer Sehnsucht, ihrer Angst, ausgeliefert ihren Taten, die nicht rückgängig zu machen sind.