Foto: Alexander Spemann als Piet vom Fass in "Le Grand Macabre" am Staatstheater Mainz. © Martina Pipprich
Text:Detlef Brandenburg, am 18. März 2012
Was der Regisseur Lorenzo Fioroni und der Generalmusikdirektor Hermann Bäumer am Staatstheater Mainz mit György Ligetis Operngroteske „Le Grand Macabre“ gelungen ist, das ist ein Totaltheater, wie man es so brillant in Szene gesetzt, musikalisch so scharf profiliert wirklich nicht alle Tage erlebt. Das Philharmonische Orchester stürzt sich in Ligetis grelle Travestien, dass es eine wahre Freude ist. Das Schlagwerk gewittert endzeitlich und die Flöten kreischen verzweifelt, die Autohupen spektakeln polyphon und die Türklingeln nerven rhythmisch (Handys gab’s damals leider noch nicht); Chor, Extrachor und Statisterie – sie alle sind mit einer Begeisterung und Präsenz am Werk, dass es die Zuschauer geradezu mitreißt. Und die nun wirklich extremen Solopartien werden mit einer Professionalität gesungen, die Figuren in Katharina Gaults grellen Kostümen mit einer Lust überzeichnet, wie man es kaum für möglich hält an einem Theater, das ja nun wirklich nicht zu den Großopernhäusern des Landes zählt.
Ligetis Oper ist ein bizarres Weltuntergangstheater. Als Vorlage diente ihm ein um 1934 entstandenes Endzeit-Schauspiel des belgischen Autors Michel de Ghelderode, in Sprachstil und Figurenzeichnung übte Alfred Jarrys Theaterkonzept mit seinen holzschnittartigen Typen einen prägenden Einfluss auf die Textgestaltung von Michael Meschke und Ligeti selbst aus. Die Handlung erzählt unter Anlehnung an Motive aus Gemälden Pieter Bruegels des Älteren, wie der Untergangsprophet Nekrotzar Einzug hält in das durch einen Kometen bedrohte, verhurte, versoffene und verkommene „Breughelland“. Nekrotzar verscheucht ein jugendliches Liebespaar, zwingt den Säufer Piet vom Fass in seinen Dienst, bricht in die sadomasochistische Ehehölle des Astrologen Astradamors und seines Weibes Mescalina ein und hält schließlich am Hofe des Fürsten Go-Go Einzug, der von seinen beiden Ministern und dem Geheimdienstchef Gepopo drangsaliert wird. Er stilisiert sich zum apokalyptischen Reiter und verpasst die Weltkatastrophe, weil Piet ihn durch eine gezielte alkoholische Druckbetankung gerade noch rechtzeitig außer Gefecht setzt. Es blitzt und donnert zwar gewaltig, aber irgendwie fällt der Untergang ins Wasser. Alle reiben sich verdutzt die Augen – und die beiden Verliebten kommen, erotisch etwas derangiert, aber bester Dinge aus Nekrotzars Grabesgruft hervor, in der sie den Untergang vor lauter Turtelei glatt verpasst haben.
Lorenzo Fioroni verlegt dieses Breughelland in die heutige Spaßgesellschaft. Aus den beiden Liebenden sind zwei lesbisch aneinander interessierte Bräute geworden (was möglich ist, weil Amando eine Mezzo-Hosenrolle ist), ihnen zur Seite eine alkoholisch schwer angeschickerte Hochzeitsgesellschaft. Piet vom Fass sieht aus, als habe Elton John lockenwicklertechnisch aufgerüstet. Nekrotzar will sich mit seiner Untergangsprophetennummer zum Medienhype hochrocken und findet in Go-Go, der (auch er eine Hosenrolle) bei Fioroni vom Fürsten zur Showmasterin mutiert ist, einen dankbaren Abnehmer seiner Prophezeiungen. Doch als er sich mit Bazooka und Kampfweste selbst zum Terminator aufschwingt und die gesamte Talkshow als Geisel nimmt, entpuppt sich sein Mord am Geheimdienstchef Gepopo alsbald als Medienfake. Nekrotzar ist entzaubert und wird von drei karnevalesken Polizisten verhaftet, Talkmaster Go-Go ist am Ende, und alle saufen und huren fröhlich weiter, bis sich eine Gitterwand nieder senkt: Kein Entkommen aus diesem Käfig voller Narren!
Fioroni also tut alles, was in seinen Kräften steht, um Ligetis schon etwas betagter Groteske (uraufgeführt 1978, in Mainz wird die von Ligeti autorisierte Fassung von 1996 gespielt) den maximalen zeitgemäßen Widerhall zu verschaffen. Und diese Kräfte sind beachtlich. Dazu hat ihm Paul Zoller ein faszinierend wandlungsfähiges Drehbühnenbild aus grauen Kachelwand-Versatzstücken gebaut, das für all die Aktionen und Auftritte der Besoffenen, Verzweifelten, erotisch Besessenen und gelegentlich nur leicht Bekleideten eine Menge Nischen und Winkel bietet, und das von live gefilmten Videos immer wieder effektvoll überblendet wird. Was diesem sinnebestürmenden Theaterabend allerdings fehlt, das ist die konzeptionelle Schärfe – nicht die erste Idee ist ja immer auch die beste, und nicht jede von Fioronis Überformungen der Figuren leuchtet einem wirklich ein. Das Treiben der beiden verliebten Bräute ist ja possierlich anzuschauen – aber bringt es die Inszenierung wirklich auch interpretatorisch weiter? Gewinnt man wirklich mehr, als man verschenkt, wenn man den Fürsten Go-Go zum grün gefiederten Revue-Showgirl macht?
In solchen Details fehlt der Inszenierung die Treffsicherheit der sozialen Referenz: Man weiß nicht immer, auf welche Gesellschaft und welches Milieu Fioroni denn nun genau zielt. Und manchmal erschöpft sich der Aktionismus in Redundanz – was allerdings schon im Libretto als Problem angelegt ist. Doch weil hier einfach hinreißend gespielt, getobt, gekalauert und eben auch gesungen wird, trägt das über alle konzeptionellen Durchhänger hinweg. Im durchweg ausgezeichneten Ensemble bleiben Hyon Lee als Gepopo mit geradezu belcantesken Koloraturen, Tatjana Charalgina als Amanda und Patricia Roach als Amando mit allerliebstem Liebesgeflöte, Vida Mikneviciute als vokal wie darstellerisch attraktives Go-Go-Girl, Stefan Stoll als schlanker, kraftvoller Nekrotzar, Alexander Spemann als gebührend greller Piet vom Fass und Sanja Anastasia als ebenso gebührend keifige Mescalina in bester Erinnerung. Am Ende restlos begeisterter Applaus.