Foto: Abschied im Feuerkreis: Thomas J. Mayer (Wotan), Katarina Dalayman (Brünnhilde), Statisterie der Bayerischen Staatsoper. © Wilfried Hösl
Text:Detlef Brandenburg, am 13. März 2012
Gut möglich, dass am Ende des neuen „Rings des Nibelungen“ an der Bayerischen Staatsoper das Dirigat von Kent Nagano als prägendes Moment der Produktion in Erinnerung bleibt. Dabei ist es gar nicht so einfach, den gemeinsamen Nenner auszumachen, auf den Nagano all die Facetten dieses musikdramatischen Weltgebäudes bringt. Was einen an seinem „Walküre“-Dirigat vorderhand fesselt, ist eben gerade dieser Facettenreichtum und die tief durchgearbeitete Strukturierung der einzelnen Facetten selbst – wobei der Orchestersatz stets einfühlsam auf das individuelle Profil der Sänger abgestimmt ist. Es gibt Momente innigsten Verzögerns, in denen das Drama seinem eigenen Geschehen mit fast lyrischer Ruhe nachzulauschen scheint. Es gibt erschütternde Zuspitzungen wie der Einbruch des Frühlings in Hundings düstere Hütte oder Wotans großen Zusammenbruch im Zwiegespräch mit Brünnhilde – da wird in der katastrophischen Klagmacht noch am ehesten spürbar, dass es um „das Ganze“ geht. Doch am stärksten prägen sich die strukturellen und klanglichen Differenzierungen ein, mit denen Nagano immer wieder überrascht: die düsteren und reichen Farben der Todesverkündigung, als Brünnhilde dem kampfbereiten Siegmund erscheint; der außerordentlich differenziert durchgearbeitete Walkürenritt (den die Regie durch das Zügelknallen der Walküren durchaus verzichtbar bereicherte); oder der impressionistisch aufgelichtete Feuerzauber im Finale.
Es war schade, dass Nagano keine durchweg erstklassige Sängerbesetzung zur Verfügung stand. Nur das Wälsungenpaar beeindruckte durch nahezu tadellose vokale und musikdramatische Statur. Hier muss zuallererst Klaus Florian Vogt als Siegmund genannt werden, auch wenn er den düsteren und heißblütigen Charakterzügen dieses Wald-Desperados aufgrund seines lyrisch reinen, dabei monochromen und kaum modulationsfähigen Timbres einiges schuldig bleibt. Aber die Leichtigkeit und Sicherheit seiner Attacke, die Klarheit der Diktion, der in fast allen Lagen lupenreine Fokus der Stimme, die Mühelosigkeit des Fortes, die hocheinfühlsame Phrasierung, die dynamische Disziplin – das alles ergibt zusammen schon eine eindrucksvolle Leistung. Anja Kampes Sieglinde eroberte sich die Sympathien mit einer Mischung aus dramatischer Bühnenpräsenz und vokaler Jugendlichkeit. Sie gestaltet die Sieglinde sehr emphatisch, mit lebendiger Phrasierung und aufblühender Höhe, allerdings auch mit einer Neigung zum überspannten Flackern. Mit den Angstphantasien des letzten Aufzugs gelang ihr aber eine fesselnde Steigerung als Abrundung eines starken Rollenporträts.
Ambivalente Eindrücke hinterließ Thomas J. Mayer als Wotan. Sein dunkler, schlanker, charaktervoller Bassbariton klingt zunächst einmal sehr einnehmend. Es war beeindruckend, welche Präsenz diese nicht eigentlich „dick“ klingende Stimme auch in den Höhepunkten der kräftezehrenden Partie entfaltete und wie packend er die charakterliche „Zerrissenheit“ dieses Gottes in höchster Not spürbar macht. Nur dass Mayer in der von mir besuchten zweiten Vorstellung (15. März) im 3. Aufzug mit seiner Kraft dann doch am Ende war – um dann mit der bewegenden Gestaltung des Abschieds noch einmal für sich einzunehmen. Katarina Dalayman dagegen gab von Anfang Anlass zur Sorge: mit ihren forcierten, dadurch rhythmisch verwackelten Walkürenrufen. Dabei war sie eine zweifellos durchsetzungsfähige Walküre, der aber offenbar die vokalen Gestaltungsreserven fehlen, so dass der Fokus der Stimme immer wieder im tremolierenden Wabern verloren ging. Sophie Koch war als schulterfreie Fricka im apricot-farbenen Glitzerkleid eine hochattraktive Bühnenerscheinung. Stimmlich war vor allem ihre vollkommen keiftonfreie Höhe einnehmend, in der Tiefe dagegen fehlt es ihr an Substanz, in der Diktion an Prägnanz. Ain Anger war ein markiger, etwas holziger Hunding-Finsterling, während die Walküren mit Erika Wueschner, Danielle Halbwachs, Golda Schultz, Heike Grötzinger, Okka von der Damerau, Roswitha C. Müller, Alexandra Petersamer und Anaïk Morel hochkarätig besetzt waren und unter Nagano zu klanglicher Hochform aufliefen.
Und Andreas Kriegenburgs Inszenierung? Sie bietet gefällige Bilder und ein paar eindrückliche Szenen – macht einen in ihrer perspektivlosen Vordergründigkeit aber recht ratlos. Dabei hatte Kriegenburg doch im „Rheingold“ mit einem klugen Gedanken begonnen: mit dem Versuch, die Tetralogie als Erzählung eines Kollektivs zu inszenieren, das sich seiner Identität versichert, indem es sich selbst den „Ring“ vorspielt. Von dieser Metaebene war in der „Walküre“ kaum noch etwas spürbar. Natürlich erkannte man Harald B. Thors so wuchtigen wie wandlungsfähigen Holzbühnenkasten wieder und auch einige Kostüme von Andrea Schraad; und natürlich konnte, wer wollte, in den zahlreichen Statisten, die von Szene zu Szene mal mehr, mal weniger gegenwärtig waren, die Fortsetzung dieses Ansatzes sehen. Nur wurde er darin von der Regie kaum bestärkt. Viel eher erregte die Mädchenriege Befremden, die etwa in der Hunding-Hütte in hellen Wallekleidern mit ihren Handlämpchen für spärlichen Lichtzauber sorgte (unter anderem dadurch, dass die Damen die Getränke zwischen Sieglinde und Siegmund hin- und hertrugen und diese dabei innerlich erleuchteten wie das fatale Milchglas in Hitchcocks „Suspicion“); oder die vor dem musikalischen Walküren-Ritt in silbrigen Hängerkleidchen und Springerstiefeln eine mähnenschwingende Stomp-Pferdenummer auf die Bühne trampelte und damit eine Buh-Bravo-Bataille des Publikums provozierte (fast ein Skandälchen – na siehstewohl!). Und dass in Wotans riesiger Regierungshalle in Eiche hell die Diener mit ihren Körpern als Sitzmöbel herhalten mussten, während hinten ein Schreibtisch in Eiche dunkel thronte – das war doch eine arg fassliche Metapher für das Verhältnis von Herr und Knecht.
Es gab ein paar kluge und ein paar rätselhafte Bildeffekte. Wenn beispielsweise bei Hunding nebst den Lampenmädels auch einige Damen vom Bestattungsunternehmen in weißer Schürze tätig waren, um im Hintergrund Leichen zu waschen und in Tücher zu hüllen, konnte man das als humane Kontrafaktur zum Geschäft der Walküren lesen, die ja bekanntlich von Wotan ausersehen sind, die im Kampf Gefallenen gleich wieder für die nächste Schlacht zu rekrutieren – was dann beim Walkürenritt mit den auf Pfähle gespießten blutigen Körpern auch gebührend angeprangert wurde. Ob uns aber die in Hundings Haus-Esche hängenden Leichen nun über spezielle atavistische Hinrichtungsmethoden aufklären wollten oder über Hundings brutales Regime im allgemeinen, blieb im Dunkeln. Oder der Dialog zwischen Wotan und Fricka: Wenn es argumentativ eng wird für den Gott, schiebt sich die Riesenwand des Bühnenkastens bedrohlich nach vorn. Und bevor der Gott gegenüber Brünnhilde nolens, volens das Heft des Handelns wieder ergreift, schiebt er sie wieder nach hinten.
Aber gerade in der Ausarbeitung der Figurenbeziehungen wunderte man sich doch, wie stereotyp Kriegenburgs Personenführung blieb, wie privat und dadurch seltsam kleinlich die Konflikte, wie zielllos die Bilder und Einfälle in ihrer Gesamtheit wirkten. Offenbar ist Kriegenburg schon in der „Walküre“ die Idee fürs Ganze abhanden gekommen. Ob er sie im Siegfried wieder findet – das ist derzeit die spannendste Frage des Münchner „Rings“.