Foto: "Das wohltemperierte Klavier" an der Berliner Schaubühne. © Thomas Aurin
Text:Jens Fischer, am 21. Februar 2012
Der Krümel – er stört, weckt Ängste, wirkt wie ein Vorzeichen nahender Katastrophen. Der Krümel muss weg! Ebenso alle anderen Unordentlichkeiten, die der Läufer dort auf der Bühne präsentiert: Falten, Knicke, Schräglage. Es wird also an ihm geruckelt, gezupft und darauf glättend herumgetrippelt, dann das Objekt der Verstörung verkrümelt – nämlich unter einem großen Teppich versteckt. Entspanntes Lächeln. Der Ordnung ist Genüge getan. Alles sauber: alles Schein. Für solche beiläufig ironischen Übersetzungsleistungen wird David Marton geschätzt. Aus Musik wird Theater: Musikerforschungstheater.
In diesem Fall beginnt mit der Entkrümelung „Das wohltemperierte Klavier“: Bachs Referenzwerk für die schöne Lüge Harmonie. Im Bereich der Akustik ist der Krümel ja das so genannte pythagoreische Komma, die unscheinbare Schwingung eines Achteltons, die dem Wohlklang zuliebe beim Stimmen gleichmäßig auf die zwölf Quinten der sieben Oktaven verteilt wird, so dass alle Tonarten gleichwertig schön klingend genutzt werden können. Mathematisch unreine Intervalle sind also klanglich reine Intervalle. Unter den Teppich gekehrte Verstimmung, das ist Harmonie. Pianist Jan Cszajkowski untersucht in Bachs Werk ihre Konstruktionsprinzipien, beginnt das C-Dur-Präludium mit sanfter Neugierde zu zerlegen, klamüsert auseinander wie Motive und Akkorde verzahnt sind, inszeniert des Weiteren kantable Mehrstimmigkeit mit anmutig sakralem Ausdruck als Choral, arrangiert Motivgewebe für acht Keyboards, wendet Takte hin und her, wiederholt, variiert. Nurit Stark entflammt das D-Moll-Präludium auf ihrer Violine und greift mit Trompeter Paul Brody thematische Vorgaben Bachs zu Jazz-Improvisationen auf. Musizieren ist sezieren, wird plastisch: szenisch interpretiert von einem somnambulen Darsteller-Septett.
David Marton war noch nie so nah bei der Ästhetik seines Lehrmeisters Christoph Marthaler. Aber er will mehr, seine zauberhafte Bach-Spielerei philosophisch überhöhen – wozu das bildungsbürgerliche Altbauwohnung-Bühnenbild alles bereithält: Betten (resignierter Aufbruch), Bücherregale (theoretischer Aufbruch) und Sitzmöbel (debattierter Aufbruch). Die hineinassoziierten Figuren entstammen László Krasznahorkais Roman „Melancholie des Widerstandes“, einem Epos traumverlorenen Sinnierens, dass musikalische Ordnung auf den Gesetzmäßigkeiten allen Seins fuße, Widerspiegelung des Universums sei. Wenn Krümel in dieses kosmische Räderwerk geraten, drohe die Apokalypse. Oder wenigstens die Revolution. Die dann auch kakophonisch aus den Lautsprechern dröhnt. Anschließend geht das Bühnenpersonal daran, bei den Requisiten etwas auszumisten, aufzuräumen, um weiterzumachen, wohltemperiert und mit Krümel unterm Teppich. Der inzwischen komplett zerkrümelt sein dürfte – wie es der Abend definitiv ist. Zu abstrakt oder einfach nur wirr sind die roten Fäden gesponnen zwischen Literaturtheater und Bach-Performance. So verkrümelt sich dann leider auch die Begeisterung für Martons clownesken Kubismus, Musik und ihre Form multiperspektivisch ins Zentrum des Theaters stellen.