Foto: Ende eines Künsterlebens: Stradella (Corey Bix) mit seiner Muse Leonore (Anna Gütter) © Janeck/Stadttheater Gießen
Text:Manfred Merz, am 30. Januar 2012
Friedrich von Flotows romantisch-komische Oper „Alessandro Stradella“ schlummerte lange in der Versenkung. Jetzt hat Roman Hovenbitzer das Stück am Stadttheater Gießen zu neuem Leben erweckt. Stradella war in Italien einer der größten Komponisten des Hochbarocks und zugleich ein Verführer, wie er im Buche steht. In Gießen wird er zum Fürsten eines venezianischen Klamauks der faschingsbunten Sorte. Hovenbitzer serviert subversiven Humor der Marke Monty Python und zieht Stradella durch den Kakao. Mal ist der Sänger Popstar mit goldenen Schallplatten, mal ein Heilandimitat beim Abendmahl mit überdrehten Jüngern. Dieser Casanova, bei dessen Stimmklang alle schwach werden, sieht mit wallender Perücke aus wie ein zu großer Milos-Forman-Amadeus. Sexueller Tatendrang gehört zwar zum Konzept, doch keine Bange: Niemand entkleidet sich. Warum eigentlich nicht, wenn alle so lasziv sind bis zum Komatösen?
Venezianische Narren in prächtigen Masken und Kostümen (Ausstattung: Bernhard Niechotz) treiben ihren Schabernack unter einer rotierenden Ilja-Richter-Gedächtnis-Discokugel. Holzkisten mit der Aufschrift „Vorsicht, Kunst“ laden Stradella und die junge Leonore ein, darin ihre erste Nummer zu schieben. Im zweiten Akt geht das Faschingstreiben weiter, auch wenn es zunächst gilt, die Prospekte à la Rubens und Raffael zu würdigen (Bühne: Hermann Feuchter). Stradella gewährt Einblick in sein Promi-Domizil und geigt auf dem Holzcello oder auf Leonore herum, deren entzückender Rücken ein Cello-Symbol trägt, weil das Cello das weiblichste aller Instrumente ist. Allenthalben wehen wollüstige Tänzerinnen als Notenblätter durchs Gemach. Die zahllosen pyrotechnischen Effekte rufen ihrerseits „Helau!“.
Im Schlussdrittel geht Hovenbitzer die Fantasiepuste aus. Schon wird die Drehbühne verschärft eingesetzt. Aber da ist noch das Libretto. Weil das Stück als Persiflage aufs eigene Metier begriffen werden soll, hat das Regieteam den Text des Originals geändert. Deshalb singt Stradella von „Theaterluft“, wenn es „Italia, mein Vaterland“ heißen muss. Danach wird der Tenor in bester Zeitlupen-Showdown-Manier von den beiden Ganoven Malvolino (perfekt: Matthias Ludwig) und Barbarino (leidlich: Wojtek Halicki-Alicca) erschossen. Nun heißt es: „Er ist tot.“ Ein Satz, der im Libretto des Friedrich Wilhelm Riese nicht vorkommt. Also steht Stradella wieder von den Toten auf und fährt mit seiner Leonore per güldenem Aufzug gen Himmel. Helau und Narrhallamarsch.
Und die Musik? Sie klingt spritzig, fidel und frohlockt im deutschen Niemandsland zwischen Weber und Wagner. Es gibt zwei potenzielle Hits, von denen einer des Tempos wegen in den Lagunenwellen untergeht: Beim Ganoven-Duett „An dem linken Strand des Tiber“ mit der genüsslichen Zeile „Großer Sänger, Mädchenfänger“ hält Jan Hoffmann als musikalischer Leiter im Graben die Zügel zu straff. Parlandostil hin oder her – von der Süffisanz des Themas bleibt nicht viel. Anders das „Hört die Glocken freundlich locken“, mehrfach prägnant gesungen vom Chor und Extrachor des Hauses – die Nummer zwei auf der Hitliste dieser Oper. Das Philharmonische Orchester spielt prächtig auf. Dass der Cancan von Offenbach und ein wenig „Auf in den Kampf“-Bizet hervorblitzen, könnte man dem Komponisten als Epigonentum ankreiden. Doch den „Stradella“ (1844) gab’s früher als den „Orpheus“ (1858) und die „Carmen“ (1875). Stephan Bootz mimt mit abgründigen Tiefen Leonores erzürnten Vormund Bassi. Corey Bix präsentiert sich in seiner Gießen-Premiere als höhensicherer Stradella. Anna Gütter, ebenfalls zum ersten Mal zu Gast in der Stadt an der Lahn, spielt und singt eine bezaubernde Leonore. Stimmlich keck, mit flirrenden Koloraturen, gewinnt die zierliche Sopranistin die Herzen des Publikums.
„Alessandro Stradella“ ist ein überdrehter Spaß zur rechten Zeit am rechten Ort. Langer Applaus vom ausverkauften Haus.