Foto: Im Wald, da sind die Räuber: Vincent Wolfsteiner als Max und Carsten Sabrowski als Kaspar in Calixto Bieitos Inszenierung. © Wolfgang Silveri
Text:Joachim Lange, am 30. Januar 2012
In Berlin hat sich ein missratener Jägerchor im „Freischütz“ schon mal als (metaphorischer) Blattschuss für den Dirigenten erwiesen. In der Deutschen Oper war das der berühmte Tropfen, der Renato Palumbo vor drei Jahren letztlich um seinen GMD-Job brachte. Derartiges hat Patrick Lange nach der jüngsten „Freischütz“-Premiere an der Komischen Oper nicht zu befürchten. Er hält nicht nur wacker alle Fäden im Graben zusammen und lässt die Hörner tadellos erschallen, sondern wirft sich auch da entschieden für Webers unverwüstliche Musik in die Bresche, wo auf der Bühne exzessiv gekichert, gelacht oder rumgeballert wird. Wobei damit das Wesentliche zur musikalischen Bilanz des Abends auch schon gesagt ist. Denn mit vokalem Hauptstadt-Ruhm hat sich die Komische nicht gerade bekleckert. Allenfalls Günter Papendells Ottokar wäre da mühelos überregional „zu verkaufen“. Aber zu einem Fest der Stimmen geht man ohnehin nicht in die Haus an der Behrenstraße. Eher schon, um aufregendes Musiktheater zu erleben. Der nun bald nach Zürich wechselnde, auch selbst Regie führende Intendant Andreas Homoki hatte nie Probleme, nach den angesagten Altmeistern oder den jüngeren Wilden der Szene zu greifen, selbst wenn die seinen eigenen Arbeiten regelmäßig zumindest die Feuilleton-Show stahlen.
Der Katalane Calixto Bieito gehört in diese Auswahl. Seine geradewegs in einem Amoklauf endende Mozart-Entführung spaltete das Publikum nachhaltig. Und obwohl er in letzter Zeit ruhiger geworden ist und niemandem mehr seinen blutigen Realisten-Mut vor Publikumserwartungen beweisen muss, ist immer noch Bieito drin, wo Bieito drauf steht. Dass die Opernleitung „empfohlen ab 16 Jahren“ unter der Ankündigung vermerkt, gehört da wohl eher zum Marketing. Auch wenn Bieitos Jagdgesellschaft im deutschen Wald nach einer anderen Beute sucht als Hirsch oder Wildschwein. Ein leibhaftiges Exemplar dieser Grunzer schnüffelt sich zwar während der Ouvertüre durchs Laub zwischen dem stimmungsvoll von hinten ausgeleuchteten Kleingeäst. „Erlegt“ und ausgeweidet wird dann aber eine nackte Frau mit Pelzmantel.
Überhaupt ist die Jagd hier eher männliches Potenzgehabe und Menschenjagd in einem Wald, der weit jenseits aller zivilisatorischen Landstriche liegt. Nicht nur die Wolfschlucht ist da der viel zierte Alptraum. Bieito übersetzt vor allem diese Szene in seinen blutigen psychologisierenden Bühnenrealismus. Kaspars (Carsten Sabrowski) Pakt mit dem Teufel ist ein radikaler Ausstieg aus dem Minimal-Konsens jeder menschlichen Gemeinschaft, nämlich die Anderen am Leben zu lassen. Für seine Kugelgießerei entführt der Finsterling ein Brautpaar, bringt die Braut in einem Gruselritual um und taucht seine Kugeln in Jungfrauenblut. Und den ohnehin als Versager bedrängten Max (Vincent Wolfsteiner) zieht er dabei auf seine Seite. Er treibt ihn in den nackten Wahnsinn. Ganz wörtlich. Wie außer sich bringt Max den entführten Bräutigam um und hüpft fortan mit Dreck beschmiert nur noch nackt durchs Unterholz. Und über die Baumstämme, die sich erst aus dem Schnürboden herabsenken, dann während der Wolfschlucht ins Wanken kommen und schließlich wie ein Haufen Mikadostäbchen aufgetürmt herumliegen. Nach dem Doppelmord zur Mitternacht – gibt’s dann ein „Ich Max – Du Agathe“ mit Variationen, die manchmal unfreiwillig komisch wirken. Wie die dauerkichernden Brautjungfern, die mit ihren albernen Miss Piggy Masken eine Art Junggesellinnen-Abschied zelebrieren, bei dem sich Ännchen obendrein frustriert als Zukurzgekommene outet.
Beim Probeschuss, der ja auch fürs „erste Mal“ steht, ruft Max seiner Agathe (Ina Kringelborn) zu: „Ich liebe Dich“, und drückt ab. Der belehrend versöhnlichen Schlussszene, die mit ihrem Vertrauen in Gott und die Obrigkeit immer etwas aufgesetzt wirkt, entzieht sich Bieito auf seine Weise durch Distanzierung und Mord. Ganz offenbar glauben Ottokar und seine Leute kein Wort von dem, was sie selbst und der auftauchende Eremit (als Penner in Riesengestalt: Alexey Tihomirov) von sich geben. Und so ist es – zumindest bei diesem Ausflug in die finstersten Ecken des deutschen Seelenwaldes – nur konsequent, dass sich Kaspar selbst umbringt und Ottokar und seine Leute dann Max und den Eremiten einfach über den Haufen schießen. Diese militanten, mit Kalaschnikows bewaffneten Outlaws werden den Weg zurück in die Zivilisation nicht mehr finden.
Das Publikum ging mit den Sängern, dem Chor und dem Dirigenten durchweg sehr wohlwollend um, spaltete sich dann beim Regieteam in das zu erwartende Pro und Contra. Aber längst ohne jene Verbissenheit, die bei Bieito noch vor Jahren üblich war. Man gewöhnt sich halt an alles. Und wie’s der Zufall will, gibt es ja im Deutschen Historischen Museum, ein paar Gehminuten von der Komischen Oper entfernt, eine Ausstellung zum Deutschen Wald. Irgendwie gehört die mit zur Inszenierung.