Text:Jens Fischer, am 9. Dezember 2011
Kinder, Küche, Kleinfamilie – wie Karies frisst dieser Lebensentwurf am Karrierewunsch. Mit geradezu verzweifeltem Willen eine Partnerschaft aufrechterhalten – oder alles dem Selbstverwirklichungstrieb opfern? Und was tun als aufgeklärt liberaler Bildungsbürger angesichts der Ungerechtigkeit und des Elends in der Welt: Komfortabel ohnmächtig den eigenen Wohlstand genießen oder sich irgendwie kompromisslos einmischen? In den Dilemmata ihrer eigenen Ansprüche suchen die Figuren in den Stücken von Donald Margulies eine eigne Position. Dialogisch sehr lebendig lässt der Pulitzer-Preisträger dabei übereinanderweg, nebeneinanderher, gleichzeitig und stichelnd gegeneinander reden. Das neue Werk „Zeitstillstand“ beherzigt wieder diese Konversationsdramatik und auch die Treffen-sich-zwei-streitbare-Paare-Komik von Yasmina-Reza-Stücken, besitzt aber nicht deren erkenntnishellen Witz und espritfunkelnde Psychologie.
So inszeniert Ulrich Waller an seinem St. Pauli Theater die deutschsprachige Erstaufführung auch nicht boulevardesk, sondern angenehmen ernsthaft und zurückhaltend. Ausgesprochen beispielhaft werden vier Möglichkeiten vorgeführt, sein Leben noch einmal neu auszurichten – oder es so bewusst wie unbeirrt fortzusetzen. Das könnte ein Fest für die Schauspieler sein. Leslie Malton spielt die Fotojournalistin Sarah, der im Kriegseinsatz gerade ein Bein beinahe weggebombt, das Gesicht zerfetzt, das Leben fast ausgehaucht wurde, die aber leidenschaftlich wie ein Junkie an den andrenalinösen Kicks dieses Jobs hängt und nach der Genesung sofort nach Afghanistan aufbricht. Woran ihre Ehe zerbricht. Den Gatten Jamie gibt Thomas Heinze – er führt sehr attraktiv seine gutturale Stimme vor, hat aber so gar nichts von der Zerrissenheit eines traumatisierten Kriegsreporters. Rudolf Kowalski ist als Ü-50-Redakteur einer Zeitschrift zu sehen, der sich unsicher zu seiner Lust auf Vaterschaft und eine sehr junge, unbedarfte Freundin durchringt. In ihrer Interpretation dieser Mandy ist Rosalie Thomass mit Mireille-Mathieu-Gedächtnisperücke und Naivchen-Manierismen allzu sehr auf die schnellen Lacher aus, obwohl sie mit ihren nur vordergründig dummen Fragen von Margulies als Katalysatorin ins Stück geschrieben wurde.
Deshalb wirkt der moralische Diskurs um Verantwortung und Voyeurismus wie drangefriemelt, gewinnt kaum Dringlichkeit, da die unterschiedlichen Positionen nicht von gleich beeindruckenden Darstellern vertreten werden. Ebenso gerät der Wettstreit um die richtige Lebensform in Schieflage. Wenn sich Jamie (Heinze) mit alleinerziehender Mutter im Handumdrehen in ein Familienleben hineininszeniert und Mandy (Thomass) ihren Kinderwunsch durchzieht, sind das nur amüsante Behauptungen. Leslie Malton überragt alle an Präsenz, weckt dabei überreichlich Sympathien für Sarah. Sie weiß, dass sie mit dem Leiden anderer Menschen ihr Geld verdient, verarbeitet das mit dem Zynismus einer Mutter Courage und kämpft um politische Korrektheit: Sie wolle nur dokumentieren, damit aufrütteln, so für das Mitleid der Welt kämpfen und zur Hilfe animieren. Eine Lebenslüge, klar. Während des Vietnamkrieges halfen noch Fotos, politische Verlautbarungen zu demaskieren, die öffentliche Meinung gegen den Krieg zu wenden, weswegen das US-Militär im Irak geradezu ein Bilderverbot verhängt hatte. Und heute? Kabarettistisch böse ist die finale Pointe: Sarah veröffentlicht ihre Gräuel-Bilder über die Schrecknisse des Krieges in einem Hochglanz-Kunstband, der als Alibi und Imageprodukt der Betroffenheit auf Wohnzimmertischen in den Lofts der Schicken und Reichen drapiert werden wird. Ulrich Waller präsentiert dieses Milieu höchst realistisch auf der Bühne, zeigt vor allem die Schrecknisse ihrer Beziehungen – gibt mit disparatem Ensemble aber der Kinder-Küche-Kleinfamilien-Ideologie kaum eine Chance.