Foto: Imogen Kogge, Marie Burchard, Klaus Schreiber und Peter Jecklin in "Marija" am Düsseldorfer Schauspielhaus. © Bernd Uhlig
Text:Detlev Baur, am 9. Januar 2012
Ein Fürst wird zum Kutscher, die Tochter eines alt gedienten Generals arbeitet an der Front – in Diensten der Revolutionstruppen. Ihre Schwester wiederum schmeißt sich skrupellosen Geschäftemachern des Schwarzmarkts in die Arme. Es ist einiges durcheinander geraten in Isaak Babels Drama „Marija“ von 1935, das in den Wirren nach der Revolution von 1917 spielt. Die Titelfigur taucht dabei gar nicht auf; in sie werden allerlei Hoffnungen der Familie projiziert, doch hat sie keine Zeit für die zerfallende Familie. Nach dem Tod des Generals ziehen in der letzten Szene dann Leute aus dem Keller in seine schicke Wohnung.
In der Düsseldorfer Inszenierung dieses selten gespielten, düsteren Panoramas hat Raimund Voigt fast naturalistisch wirkende Räume gebaut: von der etwas abgeblätterten Generalswohnung bis hin zur stickigen Schwarzhändlerbehausung. Nur leichte Perspektiveränderungen – derselbe Wohnraum mit Flügel, Ofen und Schlafstelle der alten Kinderfrau ist in den verschiedenen Szenen leicht abgewandelten Ausschnitten zu sehen – deuten an, wie sehr diese düstere Welt aus den Fugen ist. Auch zeigen die Zwischenmusiken von Wolfgang Mitterer während der Blacks in den kurzen Pausen zwischen den Raumwechseln an, dass hier eigentlich ein Horrorthriller abläuft.
Abgesehen von diesen Andeutungen konzentriert sich Andrea Breth in ihrer Inszenierung ganz auf das Spiel ihrer hochkarätigen Darsteller. Man ist es ja kaum noch gewöhnt, dass Schauspieler sich in abgetakelte Generäle vergangener Zeiten oder in Krüppel verwandeln. So künstlich Raum und differenzierte, ja feine Darstellung selbst der gröbsten Proletarier oder Neureichen auch geraten mögen (auch die Uniformen von Rotarmisten haben in Moidele Bickels Kostümen noch chic), so eng sich die Inszenierung an den Text hält und damit vom Zuschauer historisches Wissen und Einfühlungsvermögen verlangt: „Marija“ am Schauspielhaus Dusseldorf ist in seiner bewussten Hermetik ein ganz großer Theaterabend. Hauptdarsteller wie Peter Jecklin, Marie Burchard, Imogen Kogge oder Klaus Schreiber berühren ebenso wie kleine Rollen, beispielsweise Bärbel Bolle als verwirrtes, altes Kindermädchen oder Janina Sachau als Putzfrau, die am Ende die Revolution und ihre Männer mit groteskem und Unheil verkündenden Stechschritt begrüßt. Die liebevolle Nüchternheit der Komposition und die intensive Einfühlung des beeindruckenden Ensembles lassen eine grausige Welt erstehen, die einerseits unendlich fern wirkt, uns zugleich gefühlt jedoch sehr nah scheint. Die hemmungslosen Aufsteiger und die kraftlosen Verlierer, die verängstigten Frauen und die leicht hysterischen Männer machen wenig Hoffnung und beweisen dabei, wie kraftvoll kunstvolles Schauspiel alter Schule sein kann.