Foto: Klette (Kathleen Morgeneyer) und Schanotta (Andreas Döhler) in der DT-Ausgrabung "Jochen Schanotta". © Arno Declair
Text:Jens Fischer, am 20. Dezember 2011
Er starb 1990 mit der DDR – und seine Stücke waren geboren als Zeitdokumente. Gerade westdeutsche Bühnen rissen sich um Georg Seidels alltagskonkret präzisen Dramatisierungen, die im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander zeigen, dass der Zerfall Ostdeutschlands lange vor dem Mauerfall absehbar war. Sozialistischer Realismus – mal ganz authentisch. Also ohne politisierenden, moralisierenden Überbau. So schnell die Wendejubelarien aber verstummt, die Folgen der Wiedervereinigung klar waren, erlosch das Interesse an dem Ostberliner Autor.
Eine Wiederbegegnung gibt’s jetzt am Deutschen Theater, wo Seidel von 1975 bis 1987 als Beleuchter und Dramaturg gearbeitet hat.
20 Jahre nach der bisher letzen Inszenierung des 1985er-Werkes „Jochen Schanotta“ wird es in den Kammerspielen Ostalgie-frei neu ausgeleuchtet, um zu zeigen, dass die Welt in den Plattenbauten auch nicht anders aus den Fugen war wie sie es heutzutage ist. Die Haupt- ist Beispielfigur des Scheiterns eines selbst gewählten Anspruchs auf Individualität gegen die Norm. Im Porträt: orientierungsloser Widerstandsgeist und zielloses Rebellieren. Darin gleicht die Ost-Jugend anno 1985 der Einheitsdeutschland-Jugend anno 2011. Sofern diese so charakterisiert werden kann, wie es Jette Steckel in ihrer famosen Inszenierung von Gorkis „Kleinbürger“ auf der großen DT-Bühne gelang: In einer Bühnenbildwüste (der Ideologien) lässt sie vergeblich wüten, tanzen, nach Elementarem suchen, aus dem mehr als nur Anti-Haltungen erblühen könnten, Aufbrüche zu motivieren wären. Die wiederholt gestellte Frage „Wie gedenkt ihr zu leben?“ bleibt unbeantwortet. Klar ist nur der Missmut gegenüber dem Kleinbürgerleben der Eltern. Selbst der Verbürgerlichung zu entkommen, dazu fehlt die Fantasie.
Auch Jochen Schanotta ist ein leidenschaftlicher Schimpfer gegen’s allgemeine Funktionieren und Einrichten in beengenden Verhältnissen. Daher entzieht er sich allen und allem, will „leuchten“ statt kompromisslerisch erlöschen, ist und bleibt aber ratlos im Schmerz, nicht zu wissen, wie Leben anders, besser geht. Mutter, Lehrer, Arbeitskollegen, Freundin Klette versuchen ihm die Lust auf den kleinen, aber echten Spaß im großen, aber falschen Leben nahe zu bringen. „Das Leben ist schön“, sagt Klette. „Fangen wir an. Komm.“ Schanotta geht weg. Einsamkeitsbefördernd hat Regisseur Frank Abt den Abend noch monologischer eingerichtet, als der Text schon ist. Gern wird eine Szene nicht ausgespielt, sondern von ihr berichtet. In direkter Publikumsansprache sucht Schanotta-Mime Andreas Döhler geradezu verzweifelt nach Widerstand, Zuspruch. Nicht als Generationskonflikt sollen seine Probleme verhandelt werden. Daher setzt die Regie auch auf eine Darstellergruppe etwa Gleichaltriger, die höchst intensiv das Zarte der Figuren, ihre Gefährdungen herausstellen. Wie auch das alle einende Lebensgefühl: „Ich bin noch immer unbefriedigt“, singt Schanottas Mutter. Sein Lehrer versteht die ins Wegwollen übersetzte Jugendenergie, würde mitgehen, weiß nur leider auch nicht – wohin.
Das alles hat nichts mit SED-Diktatur zu tun. Obwohl die Inszenierung derart historisch kostümiert (Marie Roth) ist und aus schäbig funzeligem Lampendesign der 60er/70er Jahre beschienen wird (Bühne: Anne Ehrlich), zeigt Abts „Schanotta“ (wie zuvor bereits Steckels „Kleinbürger“) ganz zeitgemäß den Aufbruch im Leerlauf: die noch U- oder schon Ü-30-Wohlstandsmenschen von heute auf der Flucht, auf der Suche – im Warteraum Zukunft. Das so betitelte Stück von Oliver Kluck ist im Repertoire der DT-Box. So wird ein Thema über Spielzeitgrenzen hinweg auf allen drei Bühnen des Theaters in unterschiedlicher ästhetischer Ausformung erforscht. Das zeugt von kluger Spielplangestaltung. Gerade auch weil es ohne pompöses Motto-Draufstempeln oder „gesellschaftliche Relevanz“-Gerede ganz selbstverständlich funktioniert. Und dass, nur nebenbei, das Ensemble des Hauses das mit Abstand beste der Hauptstadt ist – kann in allen drei Produktionen erlebt werden.