Foto: Showtime mit Frasquita (Ariana Strahl), Carmen (Stella Doufexis), Mercedes (Karolina Gumos), Zuniga (Jens Larsen) und Manuela (Ana Menjibar). © Iko Freese
Text:Detlef Brandenburg, am 19. Dezember 2011
Man geht mit einem seltsamen Gefühl aus Sebastian Baumgartens „Carmen“-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin; mit dem Eindruck nämlich, dass der Regisseur, der sich so konsequent wie kaum ein anderer an den Skrupeln der Postmoderne gegenüber dem traditionellen Erzähltheater abarbeitet, zwar alles richtig macht, aber trotzdem daneben liegt. Natürlich: Bizets „Carmen“ zielt mit geradezu boulevardesker Direktheit auf Klischees von lasziver Weiblichkeit, Desperado-Romantik und Torero-Grandezza; sie montiert tollkühn ein tragisches Außenseiter-Frauen-Schicksal auf das Formmodell der _Opéra comique_. Diese ganze Oper atmet den Geist der genialen Kolportage. Also entfacht Baumgarten ein überbordendes Vexierspiel der Klischees und der medialen Formate.
Thilo Reuters Bühnenbild ist für diesen Zweck genial: In der materiellen Grundstruktur bildet es eine Konsumbrache irgendwo am Rande einer Großstadt ab: Hinten ragt die triste Fensterfront eines anonymen Wohnsilos empor, vorne bröckelt die Ruine einer Santander-Filiale. Die kapitalistische Karawane ist längst weitergezogen, ihre Verlierer und Gestrandeten aber sind hier hängengeblieben. Doch es verhält sich mit diesem Realismus keineswegs eindeutig. Immer wieder legen sich Jan Speckenbachs Videoprojektionen über die Szenerie und verwandeln die Winkel und Fronten in die seltsamsten Locations: Mal denkt man an schräge Club-Konzepte in abbruchreifen Gebäuden, mal an Reality-TV-Formate, in denen Zeugen einen spektakulären Mord rekonstruieren. Leitmotive der Oper (die Akazienblüte, eine verwüstete Veranstaltungsarena) erscheinen in wackeligem Super-8-Dokumentarfilm-Appeal; man sieht schönsten Slapstick, Revuefilm-Zitate und Anspielungen an Kino-Melodramen und Thriller (ein entsprechendes Plakat prangt links am Portal).
Der großspurig-täppische Zuniga von Jens Larsen scheint sich aus irgendeiner Operette hierher verirrt zu haben. Micaëla gar wandelt als leibhaftige Kitschmadonna im türkisblauen Mantel über die Bühne (Kostüme: Ellen Hofmann). Und Carmen ist ihre Antipodin: Projektionsfläche für die halbseidenen Sehnsüchte all dieser Streuner, Schmuggler, Nachtschwärmer und Securitytypen aus dem Niedriglohn-Sektor der Gesellschaft. Zu Anfang führt sie sich als eine Art Voodoo-Priesterin der Subkultur ein und zelebriert eine schwarze Messe, später inszeniert sie sich als Flamenco-Queen, bei den Schmugglern staffiert sie sich als Che-Guevara-Guerrillera aus und ist am Ende ein ziemlich schickes Torrero-Groupie. Und all das ist nachvollziehbar und funktioniert ausgesprochen gut, auch weil die offene Form der _Opéra comique_ mit ihren Sprechtexten Baumgartens assoziativer Dramaturgie optimal entgegen kommt. Bettina Bartz und Werner Hintze haben diese Dialoge stark aktualisierend überarbeitet, die Gitarristen Rayko Schlee und Zamná Urista-Rojas untermalen sie zusammen mit der Flamenco-Tänzerin Anna Menjibar gebührend feurig.
Aber – etwas fehlt. Und das ist leider das Zentrum. Trotz der engagiert spielenden und hinreißend singenden Stella Doufexis nämlich bleibt ausgerechnet die Carmen im Gewimmel der Klischees eine Leerstelle. Das ist konzeptionsbedingt: Eine Figur, die erst durch die auf sie projizierten Klischees belebt wird, muss als Charakter indifferent bleiben, weil sonst die Klischees nicht haften würden. Bizets Carmen aber ist nicht indifferent, und sie war zur Entstehungszeit der Oper wahrlich kein Klischee, sondern eine der radikalsten Frauengestalten der Opernbühne überhaupt: Vorkämpferin für eine Freiheit, die jedes Klischee, das ihr die Männerwelt anbietet (Geliebte, Hure, Schmugglerin, Teufelin) nur so lange annimmt, wie es ihrem Selbstgefühl entspricht und ihren Zwecken dient, sodann aber radikal abschüttelt. Für diesen Zug von Authentizität und Radikalität findet Baumgarten kein Darstellungsmittel. Man sieht eine interessante Inszenierung mit einer uninteressanten Hauptfigur. Das ist dramaturgisch tödlich.
Musikalisch tödlich ist die deutsche Textfassung, die die Sänger hier singen müssen (was etwa im Kontrast zur französisch gesungenen Habanera schmerzhaft deutlich wird). Sie beeinträchtigt die musikalische Idiomatik so sehr, dass man sich schwer tut, die gesanglichen Leistungen fair zu beurteilen. Für Ina Kringelborns schrill wabernde Micaëla ist das kaum eine Entschuldigung, für die oft seltsam holprig klingenden Ensembles aber möglicherweise schon. Da hilft es auch nichts, dass der Dirigent Yordan Kamadzhalov die heterogene Facettenvielfalt dieser Oper stilsicher herausarbeitet, mal knallig und mal leicht und rhythmisch pointiert musiziert und beizeiten die nötige Schärfe trifft. Neben der vokal überragenden Stella Doufexis und dem präsenten José von Timothy Richards hört man eher mittelprächtige als prächtige Sänger – und so fehlte am Ende dann doch eine ganze Menge bei dieser „Carmen“.