Foto: "leises zweifeln von ganz weit hinten rechts" Szene mit Fred Schmalz, Annamari Keskinen, Rémi Benard. © N. Klinger
Text:Juliane Sattler-Iffert, am 12. Dezember 2011
Im Quadrat unseres Alltags bestimmen die Dinge unser Leben. Immer wieder dieselben Gewohnheiten machen uns zu Gefangenen. Man hetzt herum mit Einkaufstaschen, steigt die Einbautreppe mit einem fest gefrorenen Lächeln im Gesicht hoch: Die Menschen in dem von Choreograf Michael Langeneckert mit „Alpenglühen“ ironisch betitelten Kasseler Tanztheaterstück scheinen Klischees unserer selbst zu sein. Getriebene, Isolierte, die in den wenigen Kontaktversuchen am Du scheitern. Langeneckert schafft dafür Tanzbilder von unerbittlicher Präzision.
Drei Choreografien, subsumiert unter dem Titel „Flux“, werfen in Kassel einen Blick auf eine autistische Welt, in der nichts mehr trägt. Johannes Wieland, Chef des Kasseler Tanztheaters, lässt in seinem Stück selbst die Wahrnehmung brüchig werden. In dem Bühnenbild zu „leise Zweifel von ganz weit hinten rechts“ wachsen die Bäume kopfüber vom Himmel auf den Boden. Tänzer hängen sich hinein, oder nehmen nur einen Zweig mit. Wie lange bleibt Natur? Doch die Männer bauen, schieben Klötze, ordnen sie an (auch wenn sie wieder wie ein Dominospiel zusammenfallen), und im Hintergrund läuft der Marathonmann seine Runden unermüdlich. Wieland ist ein Meister rascher Wechsel: Abstrakte und erzählerische Bewegungslinien fließen ineinander, nach melancholischen Bildern ertanzt sich das neunköpfige Corps ein kreatives Chaos von der Stille in den Rausch. Und das Paar des Abends, der rothaarige Wirbelwind Annamari Keskinen und der geschmeidig-kraftvolle Ryan Mason, beweist einmal mehr, das solch furioser Tanz, mitreißend und schwerelos, euphorisiert.
Als einzige Frau im Choreografen-Trio stellt anschließend Stephanie Thiersch mit „No Lands End“ ihre Version einer wandelbaren, verwundbaren Welt auf die Bühne: Straßenbilder mit 50 Statisten, Fellinihafte Szenen von großer Suggestion. Nichts passt zusammen, und doch hat alles einen zauberischen Klang, der klagende Mann unter dem herabfließenden Wasser, der sentimental Song zum schönsten Striptease, den man je im Theater gesehen hat: Lea Tirabasso ist ein weinendes Wunderkind, nackt und schutzlos. Diese Welt ist so schwarz wie schön.