Foto: Szene mit Tim Egloff und Elke Twiesselmann. © Hans Jörg Michel
Text:Andreas Jüttner, am 23. Januar 2012
Es klingt wie ein hochaktuelles Zeitstück zur globalen Finanzkrise: Der alte Ex-Gewerkschaftler Gus will sich umbringen – vordergründig aus Angst vor Alzheimer, doch vielmehr ist ihm jeglicher Lebensantrieb abhanden gekommen, weil es nichts mehr zu bewegen und zu verhandeln gibt im globalen Kapitalismus, der nicht das fragile Ausbalancieren von Kräften erfordert, sondern nur noch eine Kraft kennt. Das jedenfalls lässt sich erahnen aus den Diskussionen, die Gus (Edgar M. Böhlke) mit seiner Familie über seinen Freitod-Plan führt.
Tony Kushners neues Stück will anhand dieser Familie und ihrer Diskussionen zeigen, wie sehr die eine Kraft des Kapitalismus alles beherrscht: Der älteste Sohn Pill (Klaus Rodewald) ist mit einem Universitätskollegen (Thomas Meinhardt) verheiratet, bringt aber enorme Summen mit einem Stricher (Martin Aselmann) durch, in den er sich verliebt zu haben meint. Dafür verschuldet Pill sich bei seiner Schwester Empty (Irene Kugler, die seltsamen Rufnamen sind übrigens Abkürzungen der langen und zahlreichen italienischen Vornamen), die das Geld eigentlich für die künstliche Befruchtung ihrer Freundin Maeve (Ragna Pitoll) gespart hat, die sich daraufhin von Vito (Tim Egloff), dem jüngeren Bruder von Pill und Empty befruchten lässt. Vito wiederum, der als einziger in dieser Arbeiterklassenfamilie tatsächlich ein Handwerk ausübt, hat seit Jahren Arbeitskraft und Geld in Gus’ Haus gesteckt – und ist nun schockiert, dass Gus es vor seinem Freitod verkaufen und das Geld gleichberechtigt auf alle drei Kinder verteilen will.
Dass auch Gefühle und familiäre Bindungen zur verhandelbaren Ware werden können, ist auf hiesigen Bühnen freilich seit dem Aufstieg von René Pollesch vor gut zehn Jahren schon vielschichtiger und gewitzter verhandelt worden als hier. Kushners im April 2011 uraufgeführtem Stück verharrt in der well-made-Struktur des guten alten amerikanischen Familiendramas, in dessen Verlauf jeder jedem mindestens einmal eine Lebenslüge um die Ohren haut. Wobei Kushner gleich noch Gus‘ ausgiebiges Gewerkschafts-Schwadronieren als eine solche Lüge entlarvt, indem er die ganze Familienbande als Ansammlung von verkorksten Egomanen zeigt. Das trägt so dick auf, dass all die Realismus-Liebesmüh von Mannheims Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski und seinem Ensemble, die hier vor gut drei Jahren für den fulminanten Erfolg von Tracy Letts’„Eine Familie“ gesorgt hat, nun eher befremdlich wirkt – etwa wenn die Familienmitglieder sich einerseits gern mal gegenseitig überplappern, es andererseits ausgerechnet dann schlagartig ruhig wird, wenn die Inszenierung dem fatalen Hang aller Beteiligten zum Dozieren freien Lauf lässt. Wohl quasi als Ausgleich zum spröden Schwadronieren über erkämpfte und verratene Ideale oder sehr spezielle sexuelle Neurosen wird das szenentrennende Kreisen der Drehbühnen-Skulptur (Florian Etti) mit pathetisch-melancholischem Flamenco untermalt. Doch das unterstreicht nur die Vergeblichkeit des Versuchs, diesem Thesenträger-Personal mit Emotion beikommen zu wollen.