Foto: Die zweite Inszenierung von "Verrücktes Blut" am Staatstheater Braunschweig. © Karl-Bernd Karwasz
Text:Jens Fischer, am 23. November 2011
Mit Auszeichnungen überhäuft, vom Publikum und von der Kritik bejubelt, das Stück zur Sarrazin-Debatte, eine Amok-Komödie vom Clash der Kulturen. Sie holt ein junges, ethnisch unterschiedlich verwurzeltes Publikum ins Theater und bietet eine ideale Diskussionsgrundlage zum Thema Integration. „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje muss nur mit Verve vom Blatt gespielt werden: Erfolg garantiert. Eigene Interpretationsansätze? Überflüssig bis schwierig. Gerade weil das Stück jede Positionierung verweigert, mit immer neuen Wendungen selbstsicheres Wissen erschüttert, kann die Regie nur Details anders betonen. Vehement versucht dies Catja Baumann (krankheitsbedingt in den Endproben von Nicolai Sykosch vertreten) in Braunschweig – mit einer Liebeserklärung an das Theater.
Da die Autoren eben nicht psychologisch präzise Einwandererschicksale der zweiten, dritten Generation auf die Bühne sensibeln, sondern karikierend Angst- und Wunschvorstellungen des deutschen Publikums spiegeln, singen die Staatstheater-Darsteller der Sozialverlierer-Schulklasse aus dem Migrantenviertel einfach mal „We are the world“, kuscheln aneinander: Multikulti-Kitsch unter der Discokugel. Der als Außenseiter immer wieder misshandelte Kurde Hasan schießt nun nicht, wie es im Text steht, ins Publikum, um endgültig aufzuschrecken, sondern er lächelt ins Publikum. Freut sich, beim dramatisch verhandelten Theater-Projekttag zum Thema Schiller erstmals Respekt, mit den Mitteln der Kunst auch etwas von sich erfahren und Mumm gewonnen zu haben, seine Verliererrolle abzulegen. Theater als sozialtherapeutische Maßnahme: weiterspielen erwünscht. Hasan-Darsteller David Kosel setzt noch einen drauf, flutscht aus der Rolle, freut sich, dass das Publikum trotz derber Assi-Show ausgehalten und das im Stück häufig zitierte Schiller-Diktum „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ live erlebt hat: Im Theater ist Menschwerdung möglich, so könnte Integration gehen … augenzwinkernd naiv darf das doch einfach mal angedeutet werden.
So betont die Inszenierung immer das Spiel als Spiel, auch als Spiel der Identitäten. Wenn die Darsteller der Randale-Jugendlichen einige Szenen aus „Die Räuber“ und „Kabale und Liebe“ szenisch lesen sollen, verwandeln die Mimen mit Sturm-und-Drang-Ton den Abend in eine Klassiker-Aufführung. Sie entdecken die Aktualität in den Schiller-Figuren, bringen also zusammen, was inhaltlich zusammen gehört: Sie integrieren. Und damit keiner dabei auf die Idee kommt, das sei irgendwie authentisch, sind alle Rollen mit Schauspielern ohne Migrationshintergrund besetzt. Wohl mit dem Ziel, dass dieser Zusatz irgendwann einmal überflüssig sein wird.
Überzeugend bereits, wie die Rollenspielerei eingeführt wird. Das Ensemble schlendert unauffällig aus dem Premierenpublikumsgewusel auf die vorderen Reihen des bis auf die Bühne verlängerten Parketts – und verkleidet sich dann mit albernen Ghetto-Klamotten, übt jämmerlich großkotziges Macho- und Tussie-Posing ein, führt nervtötende Pubertätsattitüden vor, kratzt sich im Schritt, spuckt auf den Boden, pöbelt herum, prügelt. Laut, aggressiv, primitiv. Ein hoffnungsloser Haufen, Bildungsferne mit Karacho bestätigend. „Wer soll glauben, dass ihr keine Affen seid, wenn ihr nicht mal das schöne deutsche Wort Vernunft aussprechen könnt?“, höhnt die Lehrerin – ganz in unserem aufgeklärten Sinne. Den sie dann mit einer zufällig auftauchenden Pistole durchsetzt. Sie genießt, so endlich auch mal Macht zu haben – Martina Struppek spielt gleichzeitig auch ironisch die Wunschvorstellung einer Regisseurin, ihre Inszenierungsideen notfalls mit Waffengewalt durchsetzen zu können: der Kunst zuliebe. Auch die Geiselnahme der Schüler ist idealistisch gemeint, Gewalt soll pädagogisches Mittel der Aufklärung sein. Absurd natürlich, so die Leitkultur der bürgerlichen Mitte und Schillers ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts zu etablieren. Die Pointe des Stücks: Eine Hinrichtung des brutalsten Jugendlichen, also blutige Vergeltung für seine Schandtaten fordert die Lehrerin, während die Schüler verstanden haben, dass Aufklärung nicht Todesstrafe, sondern zweite Chance bedeutet. Überzeugend doppeldeutig auch der große Hass-Monolog der Lehrerin. Wenn sie „Rausgeschmissenes Geld seid ihr!“ den Schülern entgegenbrüllt, interpretieren diese chorisch „Die Gedanken sind frei“. Catja Baumann lässt auch „Reise nach Jerusalem“ spielen und dabei singen, Deutschland „will Vaterland dir bleiben“. Wer die „Reise“ gewinnt, darf bleiben – auf dem Anklagestuhl der Integrationsverweigerung. Auch das Publikum muss sich diese noch vorhalten lassen. Es wird mit Fragen konfrontiert wie: „Wenn Sie die Wahl haben, ihr Kind auf eine Schule mit hohem oder geringem Ausländeranteil zu schicken, welche würden Sie wählen?“ Die Aufführung hingegen versucht, dem verrückten Blut eines Einwandererlandes zu begegnen, ihm eine Theaterform zu suchen. Man muss das nicht gleich Integrationsprojekt nennen, wenn es so leidenschaftlich humorvoll gelingt wie jetzt in Braunschweig.