Foto: Renatos Demütigung durch die Verschwörer: Heikki Kilpeläinen, Hans-Otto Weiß und José Gallisa in Tatjana Gürbacas Inszenierung. © Martina Pipprich
Text:Detlef Brandenburg, am 28. Januar 2012
Mit eindrucksvoller Konturenschärfe arbeitet Tatjana Gürbaca im ersten Akt von Verdis „Un ballo in maschera“ das erregende Moment in der Handlung dieser Oper heraus. Der Staatsapparat hat in Reih und Glied Wartestellung bezogen: Die Hofbeamtenschaft sitzt in grauer Kniebundhosen-Businessware mit Aktenordnern, Notizblöcken und Laptops an der Rückwand eines goldenen Kunstraumes; auch Renato ist vom Scheitel bis zur Sohle der Bariton gewordene Staatssekretär. Man wartet offenbar auf politische Direktiven. Doch diesem Apparat fehlt das Zentrum. Denn Graf Riccardo ist ein verspielter Künstler-Dandy mit weißem Pelzschal, der, animiert von seinem Michael-Jackson-haften androgynen Pagen, ganz seinen privaten Vergnügungen und seiner unmöglichen Liebe zu Renatos Gattin Amelia lebt. Genau diese politische Leerstelle aber, die der Graf hinterlässt, unterminiert das Staatswesen, erst sie schafft das Vakuum, in dem die mörderischen Verschwörer agieren.
Die neue Mainzer Operndirektorin erzählt in ihrer ersten Inszenierung im neuen Amt die aus dieser Konstellation entstehende Tragödie szenisch faszinierend stark und dramaturgisch konsequent, in atmosphärisch dichten Räumen und Kostümen von Silke Willrett und Marc Weeger. Der weltferne goldene Kunstraum beispielsweise, den der Graf um sich herum geschaffen hat, ist fragil. Es genügt ein Stups von Amelias zarter Hand, und die riesige Rückwand kippt spektakulär nach hinten und gibt eine düstere Höhle frei, in der Ulrica und andere Ausgestoßene der Gesellschaft vegetieren. Wo aber die Regisseurin eigenwillige Akzente setzt, tut sie das mit interpretatorischer Präzision. Als beispielsweise Amelia auf dem „orrido campo“ ihrer Liebe entsagen will, begegnet ihr eine alte Frau in weißem Leichenhemd, an die Amelia sich sehnsüchtig schmiegt – ein bewegendes Bild für das, was ihr ohne ihre Leidenschaft noch bliebe: das Absterben ihres jungen Herzens, der innere Tod. Als sie und Riccardo einander dann doch noch ihre Liebe gestehen, assistiert ihnen eine Gruppe von Kindern und macht so die ganze Unschuld, aber auch die idealistische Unbedarftheit dieser Affäre kenntlich. Und als Renato und später die Verschwörer auftauchen, erkennt Renato seine Gattin sofort. Beide wollen den Grafen retten, er aus Pflicht, sie aus Liebe. Erst Renatos öffentliche Demütigung, seine gesellschaftliche „Vernichtung“ motiviert ihn zum Mord – darin exakt dem auf Öffentlichkeit fixierten Denkmuster des „politischen“ Menschen folgend.
Leider fiel die musikalische Umsetzung in der von mir besuchten Vorstellung unter der Leitung von Andreas Hotz nicht ganz so konturenscharf aus. Hotz musizierte zügig und pointiert, verlieh aber weder dem Orchesterspiel noch den Chören (Einstudierung: Sebastian Hernandez-Laverny) und Ensembles die nötige Präzision und verfehlte so die fragile Balance aus melodiösem Schmelz und nervöser Spannung, die diese wahrlich geniale Komposition auszeichnet. Gleichwohl beeindruckten die Sänger: vor allem Heikki Kilpeläinen als dunkel-kraftvoller, farbenreicher Renato und der rhythmisch agile, klar und hell timbrierte Oscar von Tatjana Charalgina. Sergey Drobyshevskiy sang den Riccardo mit voll-dunklem, in der Höhe etwas engem Tenor nicht immer mit der nötigen Agilität, stellte sich aber mit großer Seriosität dem Facettenreichtum dieser Partie. Ruth Staffa war eine sehr expressive Amelia, allerdings mit einem die Konturen verwischenden Dauertremolo, Sanja Anastasia eine leidenschaftlich lodernde, nicht immer konturenklare Ulrica. Begeisterter Beifall.