Ana Durlovski (Amina), Luciano Botelho (Elvino) und der Staatsopernchor Stuttgart.

Hinter der Fassade

Vincenzo Bellini: La Sonnambula

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:22.01.2012Regie:Jossi Wieler/Sergio MorabitoMusikalische Leitung:Gabriele Ferro

Bei Intendanten gibt es hartnäckige Vorurteile gegenüber Belcanto Opern. Nicht nur weil die schwer zu besetzen sind. Die Musik von Bellinis „Sonnambula“ (1831) entfaltet auch aber heute noch sofort unwiderstehlichen Charme. In der Geschichte landet die schlafwandelnde Amina kurz vor ihrer Hochzeit genau im Bett eines anderen Mannes. Das nutzt eine Verflossene ihres Bräutigams prompt aus, macht es öffentlich und kann sich so für kurze Zeit den immer noch begehrten Elvino als Bräutigam zurückholen. Auf den ersten Blick geht die Geschichte am Ende doch noch gut aus. Der weitgereiste heimkehrende Graf, in dessen Bett Amina, gelandet war, kennt das Phänomen des Nachtwandelns und stellt sich auf deren Seite. Für den geistigen Horizont der Dörfler ist das erst mal zu viel. Sie lassen sich erst vom eigenen Anschein der schlafend umhergehenden und redenden Amina überzeugen.

Mit traumwandlerischer Sicherheit trällert sich in Stuttgart nicht nur die betörend höhensichere Ana Durlovski in der Titelrolle durch den Abend. Für die erste Inszenierung Jossi Wielers als Intendant hat Anna Viebrock ebenso sicher einen ihrer Traumerinnerungs-Räume gezaubert, die ein fremdvertrautes Gefühl von Heimkehr evozieren. Es ist das Kellergewölbe unterm Gasthof, mit einer Kollektion von Riesenschränken, in denen man sich mühelos verstecken kann, und mit Biergartenmöbeln, die für alle Hochzeitsgäste aus dem Dorf reichen. Eine großgemusterte Zwischenwand genügt und schon ist das Gastzimmer samt Klappcouch für den Grafen bereit. Man nimmt Viebrock, Wieler und vor allem dem exzellenten, in eine Hauptrolle avancierenden Chor (Leitung: Michael Alber) jeden Pinselstrich ihrer Dorfgemeinschaftsskizze ab! Es ist grandios, mit welcher Präzision und Wärme hier Menschen porträtiert werden. Und mit welch zwingender Folgerichtigkeit aus der Musik heraus dabei zunächst eine außergewöhnliche Geschichte anrührend erzählt wird.

Dabei ziehen Wieler und sein Regiepartner Sergio Morabito aber noch eine andere, irritierende Ebene hinter der Fassade ein. Als der Graf etwa Amina das erste Mal erblickt, steigen offenbar dunkle Erinnerungen in ihm hoch. Wenn sich dann am Ende jene wie ein Gespenst herum geisternde Frau, der die Dorfbewohner immer etwas zu Essen hinstellen, zu ihm an den Tisch setzt, und offenbar nur für ihn sichtbar ist, dann schwebt die Möglichkeit über der Szene, dass Amina seine Tochter und die spukende Frau die von ihm einst verlassene und von allen verstoßene leibliche Mutter ist. Und wenn Amina bei ihrem öffentlichen Entlastungs-Auftritt als Schlafwandlerin, blutend vor Schmerzen windet, ahnt man die Möglichkeit, dass ihre nächtlichen Ausflüge eine Flucht aus den Zwängen einer rigiden Sexualmoral (mit entsprechenden, vielleicht fehlgeborenen Folgen) sein könnte.

Wieler, Viebrock und sämtliche Protagonisten liefern also ans Herz greifendes Menschentheater mit einem irritierenden doppelten Boden. Und das am Beispiel einer angeblich ja so regieresistenten Belcanto-Oper! Musikalisch gab es nicht nur in der Titelpartie jene Dosis von Virtuosen-Glanz, die Belcanto so verführerisch macht. Luciano Botelho ist ein sanft einschmeichelnder Elvino, Helene Schneiderman eine beherzte Ziehmutter und Catriona Smith als Lisa ein erfrischend spätes Mädchen. Gabriele Ferro demonstrierte am Pult, zu welchen Feinheiten und zu welcher Verführungskraft das Staatsorchester fähig ist, wenn alle in die gleiche Richtung wollen. Zu einem Musiktheater der Spitzenklasse. Die Stuttgarter feierten (nach Andrea Moses‘ „Faust Verdammnis“) nun auch Jossi Wieler für den überzeugenden Auftakt einer durchdacht geplanten und unaufgeregt begonnenen neue Wegstrecke der Stuttgarter Oper. Vielleicht ja zurück an die Spitze.