Text:Anja-Maria Foshag, am 10. Oktober 2011
Gierig, aber träge, hungrig, aber übersatt, unglücklich, aber nicht wunschlos: Das ist Aaron. Aaron bezichtigt sich selbst eines Mordes an einer alten Frau, den er nicht begangen hat, weil er glaubt, im Gefängnis endlich frei zu sein: befreit vom Erfüllungsdruck. Aaron trifft auf den Anwalt Stanley, der ihn juristisch vertreten soll und von Aarons Anti-Haltung nicht unbeeindruckt bleibt: Wie kann jemand ernstlich seine Potentiale ungenutzt lassen und unter seinen Möglichkeiten bleiben wollen? Sich weigern, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein?
In seinem Stück „Die Unschuldigen“ zeichnet der kanadische Dramatiker Daniel Karasik, Jahrgang 1986, das Porträt seiner eigenen – und das heißt einer auf Selbstverwirklichung verpflichteten – Generation, die zwischen Verweigerung und Übererfüllung operiert. In mehreren Dialogszenen entwirft er das Bild von fünf Mittzwanzigern, die sich gegenseitig des glücklichen beziehungsweise glücklosen Selbstbetrugs beschuldigen, und fragt nach ihren Motiven und Wünschen. Der Dramatiker und Regisseur Philipp Löhle hat Karasiks Stück ins Deutsche übersetzt und im Staatstheater Mainz uraufgeführt.
Zusammen mit Evi Wiedemann (Bühne und Kostüm) ist es ihm gelungen, mit einfachen Mitteln von der Sinnsuche und Überforderung junger Erwachsener zu erzählen, die auf die Notwendigkeit, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, unterschiedlich reagieren. Auf die Frage nach dem guten Leben halten Aaron (Tilman Rose), Laura (Johanna Paliatsou), Nick (Felix Mühlen) und Jackie (Pascale Pfeuti) verschiedene Antworten bereit, wenn sie nicht, wie Stanley (Stefan Graf), über ihre produktive Ungeduld, möglichst schnell hoch hinaus zu kommen, die Frage selbst vergessen haben. Stanley und Aaron markieren dabei zwei Pole. Während der Junganwalt die (Wert-)Vorstellungen von Konsumkultur und Leistungsgesellschaft perfekt internalisiert hat und zwischen Fremd- und Eigenerwartung längst nicht mehr zu unterscheiden weiß; während Stanley versucht, frühere Missachtung durch eine steile Karriere zu kompensieren und dadurch neue Leerstellen generiert – nämlich reich ist an materiellen Gütern und Möglichkeiten, aber arm an Beziehungen –, wünscht sich Aaron, den Moment zu genießen. Er sucht die romantische Liebe und unreflektierte Erfahrungen: das Einfach-sein.
Ironisch-gebrochen und ohne zu banalisieren zeigt Löhle das Leiden fünf Suchender an den Verhältnissen und sich selbst und trifft damit den richtigen Ton. Sparsam gesetzte Akzente eröffnen in dieser Inszenierung den Blick aufs Wesentliche: das Paradox und die Gefahr einer Generation, unter ständiger Selbstbespiegelung sich selbst verlustig zu gehen und im eigenen Leben nicht mehr vorzukommen.