Foto: Der Badischer Staatsopernchor im 1.Akt von "Les Troyens". © Markus Kaesler
Text:Anja-Rosa Thöming, am 17. Oktober 2011
Es sind tote Trojaner (Bewohner der antiken Stadt Troja, keine kriminell nutzbaren Hacker-Instrumente!), die die Szene beherrschen. Der Geist Hectors, eine durch und durch blau gefärbte Gestalt, wandert als optisches Leitmotiv zwischen den Lebenden und Irrenden hindurch, bis die Handlung sich endlich dem Willen der Götter fügt. Für das heutige Publikum, mit antiken Mythen womöglich nicht ganz so vertraut wie jenes der deutschen Erstaufführung in Karlsruhe 1890, ist der mahnende Geist ein Kompass im unerbittlich ablaufenden Mythos. Dafür hat die Karlsruher Neuinszenierung von Berlioz‘ opus magnum „Les Troyens“ sogar einen nicht ganz unbedeutenden dramaturgischen Eingriff vorgenommen, indem sie Hector die „Italie!“-Rufe des Gottes Merkur übertrug.
Das kolossale Stück ruht auf zwei von Vergil gebauten Säulen: In „La Prise de Troie“ steht die Seherin Kassandra im Zentrum, wie sie vergeblich vor den Griechen im Bauch des Trojanischen Pferdes warnt; in „Les Troyens à Carthage“ wird Königin Dido vom Helden Aeneas geliebt, verlassen und dem Untergang preisgegeben. Berlioz verschmilzt den „objektiven“ Mythos mit einer hochemotionalen, musikalisch betörenden Ausgestaltung der individuellen Figuren. Er liebt seine „trojanische Jungfrau“ und seine unglückliche Königin, das klingt aus jeder Phrase dieser grandiosen Mezzo-Partien. Christina Niessen (Kassandra) verfügt über eine leuchtkräftige Stimme mit dramatischem Potential, die vielleicht noch ein wenig Belcanto-Schliff gebrauchen könnte. Mit großem Beifall wurde Heidi Melton als Dido bedacht, die in der Lebensabschiedsszene „Ah! Je vais mourir“ über sich hinauswuchs: Eine junge Sängerin mit reichen Möglichkeiten und wunderbar ausgeglichenen Registern. Dass das nächtlich-trunkene Liebesduett mit Aeneas nicht zu einem Höhepunkt wurde, lag auch an John Treleaven, dessen heldentenorale Stimme deutlich erschöpft klang. Die Aufführungstradition zeigt übrigens, dass die Partie nicht notwendigerweise mit einem Heldentenor besetzt werden muss, weil sie auch markant belkantistische Anteile enthält.
Dies wäre der einzige musikbezogene Kritikpunkt in der von Justin Brown ansonsten hervorragend geleiteten Aufführung – der Dirigent animierte die Instrumentalisten der Badischen Staatskapelle (Klarinette!) zu Höchstleistungen. Eine Produktion der „Troyens“ ist für jedes Theater eine Riesenherausforderung, nicht nur wegen der solistischen Partien, sondern auch wegen Berlioz’ Anforderungen an Vielfalt und Masse in Orchester und Chor. Durch Einbeziehung des Zuschauerraums fanden sich hier überzeugende Lösungen ohne musikalische Verluste. Aeneas, jene Figur, die den Troja-Teil mit dem Karthago-Abschnitt verbindet und über die Oper hinaus noch den zukunftsträchtigen Auftrag der Neugründung Trojas in Italien weiterträgt, blieb auch deshalb blass, weil Regisseur David Hermann keine packende Vision zu ihrer Gestaltung entwickelte. Jenseits konventioneller Operngesten, ob heldisch oder leidenschaftlich, passierte wenig, übrigens oft genug auch bei den Frauen. Die Phantasie, die in das ausgefeilte Spiel der stummen Toten floss, fehlte bei den Lebenden.
Die Tanzsparte, die Berlioz in zahlreichen Tänzen und Pantomimen vorgesehen hat, fiel bedauerlicherweise weg. Dafür bekam der staatstragende Beginn des Karthago-Teils eine mediale Komponente mit Bildern auf Großleinwand und einer animierten 3D-Präsentation der neu erstehenden Stadt. Das berühmteste Instrumentalstück der Partitur, die Pantomime „Chasse royale et orage“ mit ihren Jagdbläsern auf der Bühne und rufenden Nymphen und Faunen wurde kammerspielhaft umgedeutet: Die verliebte Dido wartet zum Hörnerklang auf Aeneas wie Isolde auf Tristan.
Die Bühne von Christof Hetzer ist geprägt von stilisierter Archaik (Troja) und mediterranem Flair mit Olivenbaum (Karthago), die Kostüme waren weniger gelungen. So wechselten überzeugende theatralische Lösungen mit eher unfertigen Ansätzen. Das Staatstheater Karlsruhe aber hat eines der anspruchsvollsten Werke der Opernliteratur mehr als respektabel gestaltet; dieses Unterfangen ist immer eine Reise wert.