Foto: Die deutschsprachige Erstaufführung von Sofi Oksanens "Fegefeuer" in Osnabrück. © Uwe Lewandowski
Text:Jens Fischer, am 17. Oktober 2011
Auf ihrem Gehöft im estnischen Irgendwo verbringt Aliide den Lebensabend allein. Und kümmert sich ums Eingemachte. Fruchtbrei füllt sie in Marmeladengläser. Hinter ihr wird die Bühne begrenzt von einem Regal voll eingekochtem Gemüse. Wenn nun Zara, Enkelin der Schwester Aliides, zur Schaffung einer dramatischen Situation auftaucht, erweckt sie mit ihrer durch Zwangsprostitution gepeinigten Biografie bei Aliide all die Ängste und Erinnerungen an das psychisch Eingemachte: einer Geschichte großer Liebe, extremer Erniedrigungen, einer Schuld ohne Sühne, des Martyriums der Vergewaltigung – und weiblichen Selbstbehauptungstrotzes. Aliide (Christel Leuner) kämpft im reifen Tragödinnenton ihre Verdrängungsmechanismen nieder, erwacht aus einem Leben, das nicht ihres ist – bewirft die junge Frau mit Eingemachtem. Diese wiederum zermatscht ebensolches an Aliides Stirn, quetscht es aus. Beide sind Opfer und Täter desselben Dramas.
Das wirkt schon recht aufdringlich, wie hier die Theatertauglichkeit von Sofi Oksanens zornbefeuertem Stück „Fegefeuer“ behauptet wird. Auch die finnische Autorin scheint ihrer dramatisch recht schlichten Verquickung von privatem und politischem Schicksal in der russisch-estnischen Geschichte, dargestellt als Generationenkonflikt, nicht ganz getraut zu haben – und legte nach. Sie arbeitete das Werk nach der Uraufführung am Finnischen Nationaltheater (Helsinki, 2007) zu einem umfangreichen Roman aus. In der rauen Poesie ihrer Sprache wird darin jede psychische Lebensregung der beiden Frauen schmerzlich genau ausbuchstabiert, tief in ihre Empfindungen und Abgründe hinabgeführt. Wobei die Erzählperspektive häufig wechselt. Schonungslos verdeutlicht Oksanen die Folgen von Gewalterfahrungen in despotischen Lebenszusammenhängen, vermittelt aber auch historische Hintergründe und beschreibt estnisches Alltagsleben. Mit einer komplexen Rückblendenstruktur wird eine packende Familientragödie entwickelt, kunstvoll durchwoben von einem engmaschigen Netz aus Verweisen, selbst kleinste Motive erscheinen aufgeladen mit symbolischer Bedeutung. Gegen dieses mit vielen Literaturpreisen geehrte, bereits in mehr als 30 Sprachen übersetzte Werk wirkt der dramatische Text wie ein Skelett.
Regisseurin Marie Bues betont das, zeigt in einem nur superdezent Aliides Hof andeutenden Einheit-des-Ortes-Bühnenbild (Blanka Rádóczy) die Geschichte vom Öffnen der Einmachgläser recht sachlich – und betont allgemein menschlich, was Frauen zu tun bereit sind, um zu überleben. Aliide verrät ihre Schwester und paktiert mit dem Teufel, um die eigenen Deportation in Richtung Gulag zu verhindern: Sie heiratet einen Funktionär der russischen Okkupanten. „Denn wenn man eins wird mit dem, der die Macht hat, ist man in Sicherheit.“ Dorthin strebt auch die Inszenierung. Obwohl alles mit allen zu tun hat, gibt es kein theaterzauberisches, inhaltlich erhellendes Ineinanderfließen der Szenen, Zeiten, Geschichten – all das wird vielmehr geradezu filmisch harsch gegeneinander geschnitten. So agieren auch die Darsteller beeindruckend in ihren Rollen, spielen aber kaum miteinander. Eingemachtes bricht nur in Ausrufezeichen-Ausbrüchen hervor. Oder zischt als Wurfgeschoss durch den Raum. Bis zum reinigenden Feuerfinale. Denn wie mit der eingemachten Symbolik sorgt Marie Bues weiterhin für Klarheit.
Was bei Oksanen schon angelegt ist, wird noch einmal zugespitzt: Die männlichen Figuren (Zuhälter, Menschenhändler, Besatzer) sind nur Macker-Klischees, plus Trauerkloß-Variante. Es muss also radikal feministisch aufgeräumt werden. Wer von den Kerlen nicht schon tot am Boden liegt, wird erschossen. Aliide beginnt zu zündeln, will die Vergangenheit abfackeln. Ob dabei das Eingemachte mit verkohlt oder gar fruchtbaren Ascheboden abgibt für neues Unschuldsgrün, darf bezweifelt werden. Dass diese hochdramatische Gemengelage aufs Theater gehört, steht außer Zweifel. Nur wie funktioniert sie dort? Vielleicht geben die nächsten Versuche erfolgreicher Auskunft: Albrecht Hirche bringt am Staatstheater Hannover (12.11.) die Dramatisierung des Romans auf die Bühne, Paul-Georg Dittrich versucht sich am Theater Kiel (15.1.) wie Marie Bues in Osnabrück am ursprünglichen Drama. Ebenfalls 2012 soll das Eingemachte auch Klang werden und Jüri Reinveres Veroperung des Stoffes in Helsinki seine Uraufführung feiern.