Foto: Ehepaar Hofreiter (Juliane Köhler und Tobias Moretti) vor Grünvorhang und im Angesicht einer kalten Ehebeziehung: "Das weite Land" am Münchner Residenztheater. © Hans Jörg Michel
Text:Detlev Baur, am 10. Oktober 2011
„Die Seele … ist ein weites Land“ heißt es an zentraler Stelle in Arthur Schnitzlers „Das weite Land“. In dem vor genau einhundert Jahren uraufgeführten Drama entfaltet sich ein Panorama von Ehe- und Liebeshändeln im Umfeld von Industrialisierung und Sport- (Autoraserei und Tennis) sowie Erlebnisurlaub (Alpinismus). Hauptfigur Friedrich Hofreiter ist ein leichtlebiger Ehemann, um den herum Liebe als Spiel gesucht und als Todesfall (für den vergeblichen Liebhaber seiner Frau zu Beginn und im Duell am Ende für den gerade verflossenen Liebhaber der Gattin) gefunden wird. Kalt sind die meisten Menschen, allen voran Hofreiter, und doch ahnen sie, dass sie im Grunde noch etwas anderes suchen als pure Unterhaltung. Tobias Moretti beginnt als Hofreiter verhalten, gibt dem geistreichen wie rücksichtslosen Mann schon zu Beginn eine Schwere, die ihm eigentlich erst in der Schlussszene wirklich steht. Wenn er dann (wieder) vor dem Regen steht, der hinter dem tiefen Holzportal herniederprasselt, ist er der einsame und verlorene Sieger der Machtspielchen. Zumindest innerlich hat er seine Frau Genia nun endgültig verloren. Juliane Köhler spielt die Gattin alles andere als leichtlebig, gibt ihr durchgehend eine sehr ernste, ja psychisch angegriffene Note. Mit verschränkten Armen zeigt die elegante Dame ihren Geprächspartnern gerne ihre Schulter.
Auch wenn sich Martin Zehetgrubers Bühne im Mittelteil der Inszenierung öffnet und für den oben genannten „Seelen“-Satz des Hoteldirektors Aigner, eines älteren Bruders im Geiste Hofreiters, öffnet, wirken Bühne und Spiel schwergewichtig, ja überdeutlich. Statt Hotellobby sind große Gesteinsbrocken über den Raum verteilt, die für die behenden, aber letztlich versteinerten Menschen, nicht nur den Grund bilden, sondern auch zum Abbild ihrer selbst werden. Meistens jedoch, im Hause bzw. Garten des Hofreiter-Anwesens vor den Toren Wiens, hängen wie in dicht gestaffelten Vorhängen grüne Blattpflanzen hinter dem Holzportal herunter. Wenn die Gesellschaft zum Tennis-Match verschwindet, wuseln die Gestalten durch diesen Dschungel und kommen geschunden (mit roten Sandflecken, aber auch schon mal blutbefleckt und deutlich erotisiert) wieder hervor in die zivile Welt der gepflegten Konversation. So überdeutlich dieses Bild auch ist, so weist es zugleich auf den Mangel der Inszenierung hin. Denn die sensiblen, von Schnitzler durch geistreiches Gespräch angedeuteten Seelenverwirrungen bleiben in Kusejs Inszenierung Behauptung. Das vieldeutige Tennisspiel bleibt so vage-künstlich wie die – auch komischen – Widersprüche Hofreiters oder anderer Figuren. Markus Herings Arzt-Freund Meurer ist und bleibt ein Trauerkloß, Eva Mattes‘ verlassene Schauspielerin eine düstere Tragödin, August Zirners Doktor Aigner auf Felsen (mit Whisky ohne rocks) ein einsamer Wolf. All das ist bestens gespielt, wirkt aber statisch und seelenlos. Die jungen Herren (Shenja Lacher und Thomas Gräßle) agieren recht blaß; herausragend ist die junge Britta Hammelstein, die wirklich Leben ins Totenspiel bringt.
Martin Kusej hat für seinen Einstand eine Inszenierung vorgelegt, mit der das Dorn-gewöhnte Publikum nicht verschreckt oder überfordert wird. Das Spiel ist solide – und doch scheint – noch ?– Leben oder Widerspruch (in oder zu den Figuren) in dieser Theaterwelt zu fehlen. Im Foyer des seit seiner Edel-Sanierung vor einigen Jahren eher seelenlosen Gebäudes sind nun an den Wänden die Szenenfotos der Dorn-Ära entfernt und durch gähnende Leere ersetzt. Ein neuer Geist – die Geister der Toten sind auch ein Thema des Stückes – fehlt dem Haus nach dieser Visitenkarte des neuen Leiters allerdings noch.