Foto: Autistin der Liebe: Nicole Chevalier als Violetta Valéry in Benedikt von Peters „La traviata“-Inszenierung an der Staatsoper Hannover. © Thomas M. Jauk
Text:Detlef Brandenburg, am 21. September 2011
Für Violetta Valéry ist Alfredo die Liebe ihres Lebens. Und das bedeutet auch: Es ist eine Liebe, die sie _leben_ will. Die dramaturgische Pointe dieser Oper besteht jedoch darin, dass genau das: das Ausleben dieser Liebe in sozialem Frieden und Einverständnis mit der Gesellschaft, unmöglich ist. Das ist der Grund, warum im zweiten Akt die Argumente von Alfredos Vater bei Violetta eine so zerstörerische Wucht entfalten: Jugend und Schönheit werden vergehen, die soziale Ächtung aber wird bleiben. Damit zielt Giorgio Germont genau in das zentrale Trauma von Violettas Leben als Mätresse: Nur als begehrtes Liebesobjekt hat sie eine Chance auf soziale Anerkennung, aber nicht als Mensch – und schon gar nicht als wirklich liebender Mensch. Diese Gesellschaft in ihren rigiden Standes- und Rollenzuweisungen ist zu kleinmütig für diese große Liebe.
In Benedikt von Peters Inszenierung an der Staatsoper Hannover dagegen ist es genau ungekehrt: Hier ist Violettas große Liebe nicht Alfredo, sondern – die Liebe. Und die ist so groß, so absolut und obsessiv, dass _jede_ Gesellschaft, ja, jede Wirklichkeit dafür zu klein wäre. Deshalb sieht man auf der nahezu leeren Vorbühne niemanden als nur sie: die in die Liebe verliebte Frau, die das Ideal dieser Liebe nur mehr imaginiert, samt allen dazugehörigen Erlebnissen und Figuren. Das ist natürlich eine fast tollkühne Lösung. Und doch ist man erstaunt, ja geradezu überwältigt davon, wie die sängerdarstellerisch schlicht grandiose Nicole Chevalier diesen Regie-Ansatz in ihrem Über-zwei-Stunden-Soloauftritt beglaubigt, und wie er auch von der Musik getragen wird, die ja mit ihren Sonden so tief in das Seelenleben der Protagonistin eindringt und aus ihren Ängsten und Hoffnungen viel Wohllaut, aber wahrlich auch manches an hysterischer Zerrissenheit schöpft. Dass folglich das Orchester sozusagen als Resonanzkörper dieser einsamen Seele hinter einem Gazevorhang auf der von Katrin Wittig spartanisch instrumentierten Bühne sitzt, hat durchaus seine Richtigkeit. Und die Stimmen von Alfredo, Giorgio, Flora, Annina, die Chöre der Gäste auf den Bällen – all das klingt aus dem Zuschauerraum herein, von den Rängen, aus den Foyers: unwirklich wie Stimmen in Violettas Kopf.
Diese radikale Konzeption hat zur Konsequenz, dass der Inszenierung die oben angedeutete Gesellschaftskritik mangels der dazugehörigen Gesellschaft weitgehend abhanden kommt. Andererseits gelingt es von Peter mit bemerkenswertem Geschick, Violettas hysterischen Liebesautismus durch individualpsychologische und biographische Andeutungen zu legitimieren – auch dank der Bedingungslosigkeit, mit der sich diese Ausnahmeprotagonistin mit ihrer Partie identifiziert. Immer wieder staffiert sich Nicole Chevalier mit Kleidern aus Geraldine Arnolds Kostümkonfektion aus: einer Festrobe, einem weißen Tutu, einem roten Rock. Sie wirbt um Anerkennung für ihre Liebe, aber sie wirbt mit den Mitteln der Kurtisane, die sich als Objekt ausstellt. Schon in diesem Widerspruch liegt der Keim des Scheiterns, das sie zwingt, ihre Liebe nur mehr als Projektion zu leben. So bleibt ihr nur der einsame Liebestod, und wir sind ganz nah bei „Tristan und Isolde“. Aber selbst noch dieser Tod wird ihr zur Werbung um Aufmerksamkeit: Sie will als Märtyrerin der Liebe in Erinnerung bleiben. In einer musiklosen Sequenz vor Beginn des vierten Aktes fleht sie geradezu ins Publikum: „I am Violetta Valéry. This is for you. Stay here. Stay with me!“
Wie Nicole Chevalier das macht, geht wahrlich unter die Haut. Und dabei singt sie auch noch famos, stilistisch in der von Maria Callas begründeten und hier natürlich zwingend passgenauen Tradition eines „psychologischen“ Singens, vokal mit hellfunkelndem Timbre, in hochemotional aufgeladener Stimmführung und Artikulation. Am Ende lag ihr das Publikum zu Füßen, was einerseits hochverdient war und andererseits vor allem gegenüber dem viril-herben, ebenfalls sehr emotional aufgeladenen, dabei bemerkenswert stilsicheren Alfredo von Philipp Heo doch ein bisschen ungerecht, denn auch einen Sänger wie ihn erlebt man in dieser Partie nicht alle Tage. Aber aufgrund des ausgefallenen szenischen Settings geriet er natürlich in der Publikumswahrnehmung ins Hintertreffen. Gregor Bühl als Gast am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters koordinierte das Geschehen in seinen sehr anspruchsvollen räumlichen Verhältnissen ausgesprochen souverän, aber Verdis Musik klang dann doch auch sehr geradlinig und zielstrebig. Gerade in dieser Inszenierung hätte man ihre Extreme, ihre fragilen, introvertierten oder auch hysterisch ausgeladenen Aspekte durchaus intensiver auskosten dürfen.