Foto: Szene aus Nicolas Briegers Inszenierung von Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" © Karl und Monika Forster
Text:Klaus Kalchschmid, am 19. September 2011
Was für eine hochgradige Erregung, für die das Singen zugunsten emphatischen Sprechens zur Musik aufgegeben wird – als Melodram, ebenfalls auf russisch: die junge, naive Natascha, die eigentlich Andrej (ein Getriebener in Stimme und Darstellung: Johannes-Martin Kränzle) versprochen ist, hat sich mit dem dreisten Anatole (auch tenoral ein faszinierender Berserker: Mirko Roschkowski) eingelassen und wird nach Vereitelung der Entführung von ihrer Patentante vehement zur Rede gestellt! Dalia Schaechter schreit sich in dieser sechsten Szene von Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“ die Empörung furios aus dem Leib; die zarte Russin Olesya Golovneva – stimmlich, idiomatisch und auch in der Charakterzeichnung überragend – antwortet nicht minder verzweifelt hysterisch. Weil Pierre, der engste Freund Andrejs, ebenfalls uneingestanden in Natascha verliebt ist, darf ihn Matthias Klink als faszinierende Mischung aus beobachtendem Intellektuellen und vehement seine heimliche Liebe gegenüber Anatole verteidigenden Mann spielen.
29 durchweg überzeugende Sänger für 37 Rollen verzeichnet der Besetzungszettel an diesem Abend, 70 wären es in einer ungekürzten Aufführung der vierstündigen Oper gewesen, an der Prokofjew ab 1942 bis zu seinem Tod 1953 komponierte und keine Fassung letzter Hand hinterließ. Wie üblich gibt es in Köln vor allem im zweiten Teil, der dem Komponisten im stalinistischen wie im Nachkriegs-Russland das größte Kopfzerbrechen bereitete, Striche. Leider ist es in Nicolas Briegers Inszenierung trotzdem die schwächere Hälfte. Im ersten, dem „Friedens“-Teil, suggerierten bewegte Fassaden-Teile, die fließend immer wieder neue Räume erzeugten (Bühnenbild: Raimund Bauer), im Zusammenwirken mit der oft tanzenden Menge, aus der sich einzelne Individuen lösten, das Bild einer immerwährenden Party im dekadenten St. Petersburg des frühen 19. Jahrhunderts. Dagegen verläppert nach einer durchaus gelungenen satirischen Szene mit dem vor Moskau stehenden Napoleon (Miljenko Turk), die noch vor der Pause auf französisch zu erleben war, der „Krieg“ in halbherzigen, nichtt besonders raffiniert beleuchten Effekten: Häuser, bei denen Stahlverstrebungen in Brand gesetzt werden, Dutzende marschierender, später als Erschossene unrealistisch zu Fall kommender Menschen oder gesichtslose schwarze Lemuren, die als Todesengel Andrejs in der Dekoration herumturnen.
Über 200 Minuten gleichbleibendes Faszinosum der musikalisch durchweg überzeugenden Aufführung war das von Michael Sanderling auf einen elegisch-melancholischen, weichen und dennoch fein konturierten Sehnsuchtston eingeschworene, exzellent geprobte Gürzenich-Orchester, das gleichwohl auch immer wieder die satirisch-martialischen Attacken des zweiten Teils traf.