Text:Detlef Brandenburg, am 12. September 2011
Dass die Theater sich durch die zehnte Wiederkehr jenes 11. September, an dem mörderische Fanatiker die Twin Towers in Schutt und Asche legten, die gute Laune verderben ließen, kann man zumindest nicht flächendeckend behaupten. Jedenfalls stimmten am Vorabend des 11.9. gleich zwei mittelgroße Häuser ihr Publikum mit einem ein flotten Musical auf den fatalen Gedenktag ein: Sowohl die Oper Chemnitz als auch die in Darmstadt startete mit Elton Johns „Aida“ in die neue Spielzeit.
Nun könnte man natürlich sagen: Okay, man mag zur Musik von Elton John, zum Buch von Linda Woolverton, Robert Falls und David Henry Hwang und zu den Gesangstexten von Tim Rice stehen, wie man will – aber hier ist ja neben der unvermeidlich rührseligen Liebesgeschichte schließlich auch von Kolonialismus und Freiheitskampf, Unterdrückung und ethnischer Selbstbehauptung die Rede: alles Motive, die im politischen Umfeld von 9/11 eine erheblich Rolle gespielt haben und noch immer spielen. Doch die Darmstädter Produktion in der routiniert-gefälligen Regie von Johannes Reitmeier vermied auch nur den leisesten Anschein irgendeiner aktuellen Relevanz.
Wobei man mit einigem Grund vermuten darf, dass ein entsprechender Versuch ohnehin am teflonglatten Oberflächen-Design dieses Disneyland-Ägyptens abgeglitten wäre. Elton John ist ein toller Songwriter, aber seine Musicalmusik wirkt wie ein stereotyper Aufguss seiner Erfolgshits. Und die sentimental aufgeschäumte und gegenüber Verdis Oper in zahlreichen Handlungszügen und Figuren neu arrangierte Geschichte fällt in dem Moment in sich zusammen, in dem man den ersten Halbgedanken an eben diese Oper verwendet. Bei Verdi und seinen Librettisten Auguste Mariette Bey und Camille Du Locle ist das Handeln der Figuren immer auch lesbar als Resultat inhumaner politischer Verhältnisse. Das Musical dagegen bricht dieses Handeln auf ein paar simple Fragen privater Moralität herunter. Deswegen braucht es einen Bösewicht wie den Tückebold Zoser, der bei Verdi gar nicht auftaucht. Deshalb wirkt Aidas Schwanken zwischen Pflicht (gegenüber ihrem Volk) und Neigung (zum Feind Radames) so furchtbar sentimental. Und deshalb wirken die Lebensweisheiten aus Gutmenschleins Nähkästchen, die die Autoren ihrem Publikum mit nach Hause geben, gegenüber dem wirklichen Leben so hoffnungslos altmodisch und unterkomplex. Weniger vornehm ausgedrückt: Sie sind kitschig.
Den Musikern des Staatstheaters Darmstadt unter der Leitung von Vladislav Karklin und dem genregerecht singenden und agierenden Ensemble muss man immerhin das Kompliment machen, dass sie die Unterhaltungswerte des Stücks optimal zur Geltung bringen. Kein Wunder, immerhin hatte man mit Dominique Aref als Aida, Chris Murray als Radames, Sigrid Brandstetter als Amneris und Randy Diamond als Zoser bestens ausgewiesenes Musical-Fachpersonal engagiert. Johannes Reitmeier erzählt die dünne Geschichte in unverschnörkelter Direktheit und mit einigem Geschmack, Thomas Dörflers effektvoll-sparsame Ausstattung kommt im Wesentlichen mit zwei großen Treppentribünen in schlichter Strebewerk-Ausführung aus, mit denen er aber dank des atmosphärischen Lichtes und der Videoprojektionen von Karl-Heinz Christmann ein schickes Spielambiente auf die Bühne zaubert. Nur die arg modisch drauflos historisierenden Kostümen von Michael D. Zimmermann und der ballettierende Aktionismus in der Choreografie von Anthoula Papadakis wirken bisweilen dick aufgetragen. Am Ende dann eine Kitsch-Apotheose mit der Wiedervereinigung der Liebenden in einem anderen Leben – und eine Applaus-Apotheose mit Standing Ovations in diesem.