Foto: Christopher Tonkin in Luigi Nonos "Intolleranza 1960". © Thomas M. Jauk
Text:Detlef Brandenburg, am 26. August 2011
Röhrenradios. In der Nachkriegszeit waren sie der Stolz des kleinbürgerlichen Wohnzimmers. Und nun begegnen sie uns im Hannoveraner Opernhaus wieder. Überall in den Foyers und Wandelgängen scheppern Gesänge aus ihnen hervor, die zwar durchaus dem Baujahr der Geräte entsprechen, aber doch entschieden nicht dem, was Otto Normalverbraucher damals in seinem Wohnzimmer gern hörte: hochartifizielle Klänge von Revolution und Vertreibung, Leid und Hoffnung, die Luigi Nono in jenen Jahren eher zum Entsetzen als zum Wohlgefallen der stolzen Radiobesitzer komponiert hat. Denen war das Wirtschaftswunder wichtiger als der Klassenkampf. Wir Heutigen dagegen haben den Glauben an beides verloren. Tempi passati – genau das will uns dieser Beginn vor dem Beginn der Aufführung sagen. Doch damit ist natürlich noch längst nicht alles gesagt über Benedikt von Peters Inszenierung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“. Vielmehr ist damit nur der eine Pol einer ziemlich kühn konstruierten theatralen Situation gesetzt.
Wenn wir Zuschauer dann nämlich ins Auditorium gebeten werden, finden wir die Sitzreihen verhüllt, und der Eröffnungschor kommt schon wieder aus Lautsprechern, nun aber im Mehrkanalsound der 2010er Jahre: „ Lebendig ist, wer wach bleibt / sich den anderen schenkt…“ Hier, und nochmals ganz am Schluss, wenn es heißt: „ Ihr, die auftauchen werdet aus der Flut / in der wir untergegangen sind, / gedenkt auch der finsteren Zeit, / der ihr entronnen seid.“ – hier sind wir wirklich Zuschauer. Dazwischen aber werden wir nicht nur hineingezogen in jenes Gedenken, sondern mitten in das Theatergeschehen selbst. Komparsen veranlassen uns, mit ihnen auf die Bühne zu gehen. Plötzlich sind die Choristen mitten unter uns, hautnah beobachten wir Aufbruch, Gefangenschaft, Folter. Und in der vielleicht innigsten Szene dieses denkwürdigen Opernabends, wenn die Komparsen alle genötigt haben, sich auf Decken niederzulegen, so dass der Blick in den Schnürboden schweift, wo sich die Prospektzüge sanft bewegen und wie aus dem Nirgendwo die Stimme der „Gefährtin“ erklingt: „Ach könnte man sorglos sein und die Wunder der Natur und der Liebe entdecken…“ – dann erleben wir diese Hoffnung wie einen wunderbaren Traum.
Zweifellos ist Benedikt von Peter und seinem Team – der Bühnenbildnerin Katrin Wittig, der Kostümbildnerin Geraldine Arnold, dem Video-Regisseur Bert Zander und der Statisterie. die die Zuschauer geschickt und einfühlsam ins Geschehen hinein nimmt – zweifellos ist ihnen allen eine der kühnsten „Intolleranza“-Aufführungen gelungen, die je zu sehen war. Das betrifft nicht nur die spektakuläre Raumsituation mit dem Orchester teils unterhalb der Bühne, dort zu sehen nur durch einige transparente Zonen im Boden, und teils auf den Galerien des Bühnenturms verteilt, was ein Raumklang-Erlebnis ergibt, wie man es so hinreißend kaum für möglich halten mag. Das betrifft auch das Konzept dieser Aufführung. Denn die historisierende Distanzierungsgeste im Foyer war eben nur die These, der mit der Einbeziehung der Zuschauer ins Bühnengeschehen eine überwältigende Antithese folgt. Unversehens wird spürbar, dass nichts von dem, was Nono da (in einer Montage aus Texten von Elouard, Majakowski, Brecht oder Sartre) thematisiert, dass weder Vertreibung noch Folter, weder Ausbeutung noch Gewalt wirklich historisch „erledigt“ sind – wird deshalb so unmittelbar spürbar, weil man hier keine Chance hat, sich besserwisserisch zu distanzieren.
Und das Erstaunliche ist, dass Nonos scheinbar so hermetische Musik all dies nicht nur „aushält“, sondern im Gegenteil: dass sie durch das Hineingerissen-Werden der Zuschauer in die „Szenische Aktion“ (so Nonos Untertitel) sogar intensiviert wird. Was auch belegt, wie klug und professionell von Peter das hochkomplexe Geschehen aus Künstlern und Laien strukturiert und organisiert hat. Natürlich kann man einer solchen Aufführung nicht nach den Maßstäben einer distanzierten Musikkritik gerecht werden. Aber man kann sehr wohl sagen, dass der von Dan Ratiu einstudierte Chor der Staatsoper Hannover mit überwältigender Intensität und großer Nervenstärke bei der heiklen Sache ist, und dass das von Stefan Klingele geleitete Orchester mit bemerkenswerter Subtilität musiziert. Auch die Solisten, vor allem Khatuna Mikaberidze als „Eine Frau“ und Mathias Schulz in der exponierten Partie des Emigranten, singen ihre Parts mit hinreißender Emphase. So war dieser Abend nicht nur ein buchstäblich bewegendes Theater-, sondern auch ein faszinierendes Musikerlebnis.