Foto: Szene aus John Neumeiers "Purgatorio" am Hamburg Ballet, gewidmet Gustav Mahler. © Holger Badekow
Text:Andreas Berger, am 28. Juni 2011
Es muss ein heißer Sommer gewesen sein im Jahre 1910. Gereizte Nerven, chromatisch überspannte Akkorde, eine Künstler-Ehe vor dem Zusammenbruch. Alma Mahler hat sich in den jungen Architekten Walter Gropius verliebt, Gustav Mahler stürzt in eine Schaffenskrise. Die 10. Sinfonie bleibt Fragment. Einen Satz überschreibt er „Purgatorio“ – Feuer der Läuterung. Und so nennt auch John Neumeier sein neuestes Mahler-Ballett, gewidmet den Beziehungsturbulenzen kurz vor Mahlers Tod. Er will dabei ausdrücklich auch Alma gerecht werden und schickt der langen 10. Sinfonie noch eine Stunde mit ihren Liedern voraus.
Streng eingehakt unter Mahlers Arm strebt Hélène Bouchet als Alma schon Thiago Bordin als Gropius zu. Der liegt bald als nackte Versuchung auf dem Rasenstück. Und sie stürzt sich im Nachthemd in seine Arme und das Meer der Leidenschaft. Rollend, kreiselnd, ausgelassen. Dann Arbeitslicht: Mahler ertappt sie. Die Noten fallen ihm aus der Hand. Das ist so unnötig aufwendig und doch konventionell erzählt wie Almas Lieder. Genial wird Neumeier erst wieder, wenn er im zweiten Teil Mahlers schmerzliches Genie aufspürt. Was bei Alma süßlich ausgesungen wird, sind bei Mahler nur noch Motivfetzen eines alten Traums von Glück. Das private Purgatorio entspricht den gebrochenen Weltverhältnissen. Und so lässt Neumeier immer wieder die Bühne von neuen Gruppierungen entern, die sich ablösen und verschränken wie Stimmen einer Partitur.
Zentralfigur ist nun der charismatische Lloyd Riggins als Gustav Mahler. Im hochgespannten Pas de deux mit Alma beengt er sie in seinen Armen und strauchelt dann selbst. Sein Ringen und Händedruck mit Gropius suggeriert zugleich Faszination wie Erschrecken vor dem konkurrierenden Männlichen. Und immer wieder findet Mahler, wenn er von seinen Figuren aufgesogen oder von der Welt überrannt wird, Trost in den Armen seines schöpferischen Geistes, den Alexandre Riabko mit Drehungen und Armgirlanden malt. Im Finale setzt die Verklärung ein. Rührend langsam legen Alma und Mahler die Arme umeinander. Sein Kopf liegt tot in ihrem Schoß.
Mit diesem zweiten Teil ist Neumeier eine packende Künstler-Collage im Stile seines Nijinsky-Balletts gelungen, den ersten hätte es nicht gebraucht. Almas schwelgerische Lieder werden von Charlotte Margiono mit schön fülligem Sopran gesungen. Doch sie haben keine Chance gegen Mahlers komplexe und welthaltige Sinfonik, die Simone Young mit den Hamburger Philharmonikern mit großem Atem und dynamischer Vielfalt ausbreitet.