Foto: Ander Zabala, Brigel Gjoka und Fabrice Mazliah in "Sider" von William Forsythe. © Dominik Mentzos
Text:Hartmut Regitz, am 22. Juni 2011
Sein oder Nichtsein, das ist hier nicht die Frage. „Is, and isn’t” heißt es zuletzt bei William Forsythe auf einem der vielen Pappkartons, die in seinem neuesten Stück eine Rolle spielen. Und wenn das Licht im Festspielhaus Dresden-Hellerau endgültig erlischt, bleibt von dem projizierten „they were” am Schluss nur ein „and they weren’t” als einziger Hinweis darauf, was der Choreograf seinen dreizehn Interpreten neben seinen Anweisungen als Soundtrack einer alten Shakespeare-Verfilmung aus dem Jahr 1969 den ganzen Abend über gleichsam per Mikroport ins Ohr „träufelt”.
„Hamlet” also, wenn auch auf eine Weise, die sich dem Zuschauer nicht unmittelbar erschließt. Wie anders bei einer „Arbeit von William Forsythe und der Forsythe Company”, die sich „Sider” nennt: ein Wortspiel aus dem Englischen, das sich nicht so einfach ins Deutsche übertragen lässt. Jedes Ding hat seine zwei Seiten, selbst wenn es einer der erwähnten Pappkartons ist, und David Kern nimmt ihn in einer Schlüsselszene, um mit zwei Stimmen zu sprechen, je nachdem wie er sich vor oder hinter dem Karton positioniert: ein gespaltene Persönlichkeit, wenn man so will. Besser gesagt: das personifizierte Paradoxon, das, wie einer der Schauspieler in dem Shakespeare-Stück kostümiert, die Wahrheit je nach Standpunkt wechselt.
David Kern ist einer der ersten, die im Festspielhaus erscheinen, das Forsythe bis auf ein paar farblich changierenden Leuchtstoffröhren von Spencer Finch leer geräumt hat. Und ist auch derjenige, der nicht nur den achtzig Minuten dauernden Abend brabbelnd begleitet (allerdings in einem Englisch, das allenfalls zu ahnen ist). Sein Pappschild trägt die Aufschrift „in disarray”, und in Unordnung, heillose Verwirrung geraten ist so vieles in dieser Arbeit, die nichts erzählen will: als Finger- und Körperübung ein paar handverlesener Tänzer und Tänzerinnen, die gar nicht erst versuchen, einen tieferen Sinn zu ergründen, sondern Sprache, Klang, Gebärde und Tanz wie eine Partitur ihrer kommunikativen Möglichkeiten nützen.
In der Tat ziehen alle Tänzer ihre Register. Vermummt wie Ritter oder neuzeitliche Spezialkommandos der Polizei, entwickeln sie hoch komplexe Bewegungsmuster, die polyzentrisch scheinbar in die verschiedensten Richtungen zielen. All das in einer Irrsinnsgeschwindigkeit, als wollten die Beine den Tänzer immer wieder davonlaufen. Ebenso virtuos und variabel die Handhabe der Kartons, die für alles taugen: mal ein Haus vorstellen, das nicht einbruchssicher ist, mal eine Wand, gegen die einer tritt, mal eine Platte, unter der sich Kern partout nicht begraben lässt. Und mitten drin und oben auf: Fabrice Mazliah, der einen Hamlet vorstellt, der keineswegs von des Gedankens Blässe angekränkelt ist. Kraftvoll setzt er seinen Körper ein, um wenigstens für einen Augenblick so etwas wie Ordnung zu schaffen. Doch erst am Ende ist Ruhe im Karton, und die brummelnde Musik von Thom Willems verstummt. Kaum hörbar kippt eine Wand um die andere um, und nacheinander verschwinden die Tänzer in den beiden Gassen, aus denen zu Beginn wie ein Echo immer wieder ein paar Stimmen zu hören sind. Und Fabrice Mazliah, Roberta Mosca oder David Kern stehen wieder da, wo sie am Anfang gestanden haben. Der Rest ist Schweigen – und die Erinnerung an eine Performance, die sich wie ein Puzzle erst im Nachhinein erschließt.