Text:Wilhelm Roth, am 27. April 2011
In Krisenzeiten erinnern sich die Theater gerne an Stücke, die sie längst vergessen haben, die aber jetzt wieder aktuell erscheinen. So taucht „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von 1929, Brechts bissige Satire auf Börse und Spekulation, neuerdings wieder auf vielen Spielplänen auf. Jetzt scheint Georg Kaisers „Von morgens bis mitternachts“ aus dem Jahr 1912 dran zu sein. Auch hier geht es um Geld, aber vor allem um die Erkenntnis, dass man sich damit letztlich nichts von Wert kaufen kann. Der Bankkassierer, der am Morgen 60.000 Mark unterschlagen hat, versucht den ganzen Tag mit Hilfe seines plötzlichen Reichtums seinem kleinbürgerlich engen Leben zu entfliehen, aber er scheitert kläglich.
Die Darmstädter Produktion von Axel Richter (Regie) und Klaus Noack (Bühne) zeigt, dass dieses frühexpressionistische Drama lebendig geblieben ist, wenn man es nicht als Museumsstück aufführt, sondern vorsichtig in die Gegenwart holt. Der Kassierer erlebt – anders als im Text – seinen Ausbruchsrausch als Traum, dadurch erscheint die zwischen Groteske und Pathos changierende Sprache Kaisers nicht als altmodisch, sondern als genau dieser wahnsinnigen Geschichte angemessen. Das Glücksversprechen der Orte, die der Kassierer besucht, war schon vor 100 Jahren hohl, banal und kitschig, nur dass man diese Lokalitäten heute anders nennt. Aus dem Ballhaus wird ein Luxusbordell und dem Versammlungsraum der Heilsarmee ein Wellness-Tempel. Das bonbonfarbene Familienbild und das Sechstagerennen (mehr Geschäft als Sport) musste man nicht ändern.
Trotz einiger Schwächen eine überzeugende Inszenierung. Am Ende allerdings übernimmt sie sich, anders gesagt, sie übertrumpft Georg Kaiser in ihrer Radikalität. Statt die Pistole gegen sich selbst zu richten, wird der Kassierer zum Amokläufer mit Maschinenpistole. Umso bizarrer, wenn danach das rote Sofa mit der süßen Familie wieder nach oben fährt. Der Traum ist zu Ende. Der Kassierer, präzise und unaffektiert gespielt von Matthias Kleinert, wird sich wieder unterordnen. Der Alptraum geht also weiter.