Text:Jens Fischer, am 1. Oktober 2012
Stichwort: Bremerhaven – sofort denkt jeder an Hafen. Und der ist riesig. Jährlich legen mehr als 6.000 Schiffe an, 1,8 Millionen Container werden ein- und auch ausgeschifft, zwei Millionen Autos an und von Bord gehievt. Aber das sehen Touristen und all die Shoppingmenschen in der City meist nicht. Die kilometerlangen Kajen mit ihren Kranungetümen und die Millionen Quadratmeter Stellflächen liegen draußen Richtung Nordsee an der Wesermündung. Abseits. Ein idealer Ort für Dirk Laucke. Wird er doch immer an den Rand der Stadttheater-relevanten Gesellschaft geschickt, um etwas über ihr Herz zu recherchieren. Und um die Ausgegrenzten, Abgehängten, Unangepassten, die mit wenig Geld durch ihren prekären Alltag schliddern, mit ihrem Jargon auf die Bühnen zu holen. Poetisch verdichteter Sozialrealismus.
In diesem Fall also Cargonauten: Leiharbeiter auf See und ihre Malocherkollegen an Land. Seefahrerromantik? In der hocheffizient getakteten Welt der Containerriesen und computergesteuerten Terminals sucht man sie natürlich vergebens. Das hatte 2008 eine Fotoschau des „Deutschen Schiffahrtsmuseums“ gezeigt, deren Bilder das Uraufführungsbühnenbild (Nora Johanna Gromer) zitiert, während Laucke den Ausstellungstitel auf das „Theaterstück für Bremerhaven“ überträgt. Aber seine satten Rechercheerträge werden nicht als Dokumentartheater abgefeiert.
Fernweh ist auf der Bühne des Kleinen Hauses in Bremerhaven nur noch als Palmenfototapete sichtbar. Davor versucht sich ein Mann an Selbstmord, besucht dann aber doch lieber, wie Laucke, mit der Diakonin der Seemannsmission die Containerschiffe. Und wie der Autor hängen die Figuren auch mal in einem Lokal ab, das Bremerhavenern als zwielichtige Karaoke-Bar Mabuhay bekannt ist. Die Darsteller charakterisieren den Ort, indem sie bewusst gesangsdilettantisch Songs wie „I’m sailing“ dekonstruieren.
Es ist Lauckes Qualität, in solchen Settings sozial sehr genau und sprachlich präzise seine Figuren zu verorten. Ohne Kitschansätze, Besserwisserei, Belehrung nimmt er sein Personal nicht nur ernst, sondern sympathisiert mit ihm, so dass Zuschauer in ihrer Fremdheit gegenüber den porträtierten Milieus leicht Verständnis für die kleine Fluchten und die große Stagnation entwickeln konnten. Um so überraschender: Jetzt wirkt die dramatische Argumentation klischeehaft. Und der Laucke-erfahrene Regisseur Jens Poth setzt noch einen drauf, indem er sich weniger um Empathie, denn um Spaß auf Kosten der Figuren interessiert, die teilweise wie Comedy-Typen auftreten. Auch muss das Ensemble ab und an distanzierungstechnisch verdeutlichen, dass der Tonfall und die Dialekte nicht die ihren sind.
Dabei hat Laucke schon einen ausreichend epischen Genremix niedergeschrieben, eine vitale Mischung aus Handlung spielen und erzählen – und auch Möwen wurden hinzufabuliert, Überflieger halt, Schnattertanten mit den Metaperspektiven, die gern mit soziologischem Zungenschlag philosophisch abheben. Eine Handlungsebene darunter möchte John, der Selbstmordkandidat des Beginns, noch einmal versuchen, was Gutes-Wahres-Schönes zu tun. Da kommen ihm asylwillige Marokkaner gerade recht, die in einem Container entdeckt werden. John will sein Leben ändern – wie Laucke sein Stück neu positionierte, als er von einer solchen (für Bremerhaven eher seltenen) Begebenheit erfuhr. Anstatt sich dem fremden Leben der Hafenarbeiter und Seeleute fortgesetzt aufmerksam zu nähern, geht es plötzlich um die Festung Europa. Obwohl die Flüchtlinge nicht auftreten. „Wie im echten Leben findet ihr Drama in der Debatte über sie statt“, betont Laucke im Programmheft. Nur dass es eben kein Drama wird. Alle Figuren müssen wider Johns hektischen Aktionismus darlegen, warum ihr Lebensmut, ihre Utopien, ethischen Grundsätze nicht ausreichen, um jetzt konkret zu helfen und sich dadurch strafbar zu machen.
So richtig und wichtig es ist, die Folgen der zynischen Abschottung Westeuropas zwecks Besitzstandswahrung immer wieder öffentlich zu machen, so wenig hilfreich ist es, seine Theaterfiguren ans politisch korrekte Anliegen zu verraten. Wobei sogar das Stückfinale verrutscht, obwohl es einen anderen Aspekt fokussiert. Ein Seemann erfährt von seiner skypenden Tochter aus der philippinischen Heimat vom Tod der Mutter: „Und wo bist du?“ Papa ist halt seit Monaten weitweit weg, kann nur so seine Familie ernähren, indem er auf den Weltmeeren den kapitalistischen Wertschöpfungsmechanismen beim Funktionieren hilft. Mit so einer psychologisch genau erspielten Tragödie im Kleinen könnte fürs globalpolitisch Große sensibilisiert werden. Aber derart emotionalisiert wie in Bremerhaven verschwimmt alles rührselig …