Text:Ingo Dorfmüller, am 24. März 2011
Im Jahr 1870 machte ein brasilianischer Komponist an der Mailänder Scala Furore: Antônio Carlos Gomes brachte dort seine Oper „Il Guarany“ heraus, deren tragischer Held ein Indianerhäuptling war. Doch der Erfolg blieb Gomes nicht treu: Schon seine zweite Mailänder Premiere. „Fosca“, war ein Flop. Und von da an war der Komponist ängstlich bestrebt, dem jeweils herrschenden Publikumsgeschmack zu entsprechen.
Als er 1889 mit „Lo Schiavo“ erneut ein „brasilianisches“ Sujet auf die Opernbühne brachte, erlaubte er dem Librettisten Rodolfo Paravicini daher, das Ganze in die Schablonen des konventionellen Melodramma zu pressen. Es fügt sich diesem Zugriff aber nur bedingt. Das traditionelle Figurendreieck – Bariton steht zwischen Sopran und Tenor – kommt hier nur unter äußerem Zwang zustande: Der Sklave Iberé wird mit der Sklavin Ilàra zwangsverheiratet, um die Verbindung Ilàras mit Americo, dem Sohn des Plantagenbesitzers, zu verhindern.
Für Gomes war das Thema ein Herzensanliegen: Brasilien hatte im Jahr zuvor die Sklaverei abgeschafft. Dieser dem Stück eingeschriebene Widerspruch – also ein brennend aktuelles Thema, das die Grenzen der (hier zudem sehr konservativ aufgefassten) Gattung sprengen könnte – ließe sich womöglich auf der Bühne fruchtbar machen.
Nicht so in Gießen. Hier herrscht, kurz gesagt, die allerblasseste Konvention: Gänge, Gesten und Requisiten kommen aufs Stichwort, der Chor nimmt brav en bloc Aufstellung und wird bei Bedarf wieder abgeräumt, die Protagonisten gehen ohne erkennbare innere Beteiligung durch die von der Regie (Joachim Rathke) verordneten Bewegungen, stets gefolgt vom zitternden Lichtkegel eines Scheinwerfers. Die vehement behauptete Aktualität der Inszenierung – sie macht aus den Indianern lateinamerikanische Lohnsklaven von heute – wird von der Regie keine Sekunde lang mit Leben erfüllt.
Musikalisch war der Abend recht ansprechend. Gomes, der seinen melodischen Erfindungen offenbar nicht recht traute (sie sind in der Tat von unterschiedlicher Qualität), baut selten große musikalische Bögen und bezieht starke Wirkungen aus dem kontrastreichen Nebeneinander unterschiedlicher musikalischer Elemente. GMD Carlos Spierer fand mit dem Gießener Orchester nach etwas unkonzentriertem Beginn zu einer kompakt kraftvollen Lesart, die dem Eindruck des kleinteilig Disparaten wirkungsvoll entgegensteuerte. Der albanische Tenor Adrian Xhema (Americo) bestach nicht allein durch strahlende Spitzentöne und den Schmelz und die Schönheit seines Timbres, sondern auch durch intelligente Gestaltung. Virginia Todisco (Ilàra) hatte es mit einer Partie zu tun, die einen großen Stimmumfang, Durchschlagskraft, aber auch große Beweglichkeit erfordert: Sie machte das klangvoll in allen Lagen und mit mühelosem Registerausgleich; allenfalls ein nicht hundertprozentig kontrolliertes Vibrato ließe sich monieren. Der Bariton Adrian Gans als Sklave Iberé (also die eigentliche Titelfigur) schmetterte imposante hohe Töne in den Saal, sobald es aber darum ging, ohne Druck, in mittlerer Lage, zu singen und womöglich eine kantable Phrase zu formen, wurde die Stimme matt und brüchig. Als Sklavenbefreierin tritt in der Oper eine französische Gräfin auf, der Gomes effektvolle Koloraturgirlanden in hoher Sopranlage zugedacht hat. Carla Maffioletti sang das ganz bezaubernd; sie war auch, neben Adrian Xhema, die Einzige, die etwas darstellerische Eigeninitiative erkennen ließ. Prachtvolle, gut einstudierte Chöre rundeten den zumindest musikalisch positiven Gesamteindruck ab.