Foto: "Rustschuk", ein Canetti-Projekt am Theater Osnabrück. © Uwe Lewandowski
Text:Jens Fischer, am 28. März 2011
Voller Verlangen nach etwas, das verloren gegangen ist, so tauchen Autor und Leser in Autobiografien ein. Diese erfinderischen Kompositionen: Wie jemand wurde, was er ist, und was er dabei am Wegesrand noch so an Prosawilligem entdeckte. Derart literarisierte Elias Canetti seine Kindheit. 1905 wurde er als Sohn sephardischer Juden in Rustschuk geboren, lebte bis 1911 in der Donauhafenstadt, die im heutigen Bulgarien Russe heißt. Dorthin reisen ihm jetzt Theatermacher nach – auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Das Dramatheater Russe pflegt mit Mitteln des Bundeskulturstiftungs-Fonds „Wanderlust“ eine Partnerschaft mit dem Theater Osnabrück. Höhepunkt ist nun die gemeinsam erarbeitete Inszenierung der Russe-Episoden aus Canettis Autobiografie.
Das deutsche Publikum könnte so etwas über bulgarische Geschichte, das bulgarische etwas über deutsche Theaterästhetik, alle etwas über Canetti erfahren. Prima Idee – mit der Regisseur Ivan Stanev baden geht. Er lässt die Bühne zum Erinnerungsbad fluten, das auch als Leinwand für versunkene Schätze funktioniert: Historische Stadtansichten, Porträts der Canetti-Familie werden projiziert und mit Animationstricks zum Leben erweckt. Videotechnisch ist das beeindruckend. Ein älterer Canetti-Darsteller sitzt im Trockenen, raucht, hämmert auf seine Schreibmaschine ein, räsoniert im abgeklärt selbstironischen Ton über seine ersten sechs Lebensjahre. Beispielhafte Momente werden im Bühnenbild-Bassin angespielt. Eine Schauspielerin gibt das Canetti-Kind mit lebensgierig aufgerissenen Staune-Augen, assistiert von einem Canetti-Jungen verwandeln sich Beschreibungen in unmittelbares Erleben. Weltaneignung als Zur-Sprache-Kommen. Ein Text, drei Perspektiven, drei Tonlagen: Darstellerisch ist das beeindruckend. Auch weil die Mimen dabei so traurig vor sich hin tropfen, durch die Szenen plantschen und Liedgut beim Suhlen im nassen Element intonieren müssen. Während Stanev Passionen, Ängste, Fantasien aus Kindersicht illustriert.
So wird das Purimfest als bedrohliche Maskerade, Beschneidung als blutrote Groteske dargeboten. Es gibt zudem echt bulgarische Bulgarendarsteller. Symbolisch schillernde Bilderfindungen reihen sich aneinander. Wenig ist dabei vom einstigen Leben an der Grenze zwischen Orient und Okzident, der multikulturellen Oase in Russe zu erfahren. Kein Blick wird gewagt hinter Canettis ebenmäßig lang gezogene Satzkonstruktionen oder die Kreation von Vergangenheit. Unvermittelt darf der Literaturnobelpreisträger zum Finale als O-Ton-Zuspielung ein zentrales Thema seines Werkes/Lebens behaupten, die Todesverachtung für den Tod, zu der ein Tänzer noch einen Totentanz durch den Pool zucken muss. Erinnerungsarbeit zerfließt, jedweder Fokus wirkt verschwommen. So war die Wasser-Metapher sicher nicht gemeint.