In Dresden freilich versagt man sich solche Aktualisierungen, hat sich aber statt der verbreiteten Fassung Marius Petipas die in Europa seit 34 Jahren nicht mehr gespielte Version von George Balanchine als deutsche Erstaufführung gesichert. Da muss Jón Vallejo als Franz noch immer arg pantomimisch mal auf Swanhildas Teepott, mal auf Coppelias Balkon weisen und die Hand aufs Herz drücken, um seine gespaltenen Gefühle auszudrücken. Erst im dritten Akt, wenn zur Porzellanglockenweihe die allgemeine Hochzeit gefeiert wird, bahnt sich in den allegorischen Divertissements etwas von Balanchines abstrakter Choreografie an. Da bilden zu Delibes bekanntem Walzer der goldenen Stunden Schülerinnen und Studentinnen der Palucca-Schule symmetrische Muster, quellen aus einem kleinen gedrängten Kreis zu bühnengreifendem Wirbel und erfüllen so das Fest mit harmonischer Energie. Bevor die Compagnie mit zackigen Sprüngen die feindlichen Kräfte des Krieges als Geschlechterkampf gegeneinanderführt. Die Damensoli erinnern an Balanchines Juwelen-Trio, und bei Sangeun Lee und Claudine Schoch strahlen sie nicht nur korrekt, sondern funkeln sie auch.
Im Pas de deux darf Vallejo mit Drehsprüngen und Entrechats männlich auftrumpfen. Doch der Abend gehört nun mal dem weiblichen Raffinement Swanhildas. Anna Merkulova spielt wunderbar die unter Bravheit verborgene Überlegenheit des cleveren Mädchens aus, gibt ihr zuweilen ironische Gebärde und dabei auch tänzerisch eine spitzensicher wirbelnde Brillanz, die sie zum Mittelpunkt der Aufführung macht. Ralf Arndt ergänzt mit Charakterpantomime als Coppelius – auch Balanchine erzählt nicht, ob er ein gefährlicher Quacksalber oder ein skurriler Wissenschaftler im Dienste des menschlichen Fortschritts ist. Dresden erweist sich so wiederum als Stadt des ästhetisch entschlackten Märchenballetts, das sicher viele junge Zuschauer für diese Kunstform begeistern wird. Ein Psychologe ist Balanchine freilich nicht.