Cover „Der Kaiser von Atlantis“ BR Klassik

CD: „Der Kaiser von Atlantis“

Ich sitze im Homeoffice und höre diese Aufnahme. Meine 17-jährige Tochter kommt in den Raum, bleibt stehen, hört zu und fragt nach zwei Minuten: „Kann man da hingehen?“ Viel mehr kann, muss man über diesen neuen „Kaiser von Atlantis“ gar nicht sagen.

Viktor Ullmanns knapp einstündige Oper hat sich zum Repertoirestück entwickelt. In den letzten fünf Jahren wurde es immerhin in Basel, Bonn, Bremerhaven, Düsseldorf, Freiburg, Gera, Kaiserslautern, Köln, Neustrelitz und Pforzheim inszeniert. Gründe dafür gibt es viele: Die attraktiv postmoderne Musik, die durchaus dankbaren Gesangspartien und die Instrumentierung für elf Musiker, die in nahezu jede Studiobühne passen, vor allem aber die Entstehungsgeschichte des Werkes. Ullmann schrieb den „Kaiser von Atlantis“ 1944 sozusagen offiziell in Theresienstadt. Das Stück war für eine Aufführung vorgesehen, zu der es jedoch nie kam. Ullmann und sein Librettist Peter Kein wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die Oper überlebte, weil Ullmann seine Manuskripte zwei Mitgefangenen anvertraut hatte.

Die durch diese Genese vorgegebene historische Perspektive prägt den Umgang mit dem 1976 in den Niederlanden uraufgeführten Stück bis heute. Wut, Trauer und Aufarbeitung stehen in der Regel im Zentrum der musikalischen und szenischen Interpretation.

Bei Patrick Hahn, dem jungen, neuen Generalmusikdirektor der Stadt Wuppertal, und den Musiker:innen des Münchner Rundfunkorchesters hören wir von Anfang an – Theatermusik. Bereits der „Lautsprecher“ genannte Ansager und Moderator zieht uns in das Geschehen hinein. Wir lernen eine akustisch transparent und vielfarbig aufgefächerte Welt kennen, in der ein Tyrann herrscht, der scheinbar durch nichts zu bremsen ist. Dann boykottiert ihn der Tod, indem er seine Arbeit nicht mehr tut und ein Reich endet. Der Tyrann wird Mensch und kann sterben. So gesehen ist „Der Kaiser von Atlantis“ nicht nur eine vielfach gebrochene Spiegelung des Komponistenschicksals, sondern sogar eine Utopie.

Das hört man bei Patrick Hahn wie nie zuvor. Die vielen Zitate von Bach bis Nationalhymne vermitteln sich wie von selbst, man ahnt die Wurzeln des Komponisten nicht nur bei Hindemith und Schönberg, sondern auch in Jazz und Revue. Dazu kommt ein leiser Humor zum Zug, wird die Klangfarbenvielfalt des kleinen Orchesters fast augenzwinkernd vorgezeigt. Und dieser Konzertmitschnitt aus dem Oktober 2021 im Münchner Prinzregententheater führt vor, was Ullmann – trotz oder wegen des an sich bleischweren Sujets – für ungeheuer vitale Theaterfiguren geschaffen hat. Dafür hat BR Klassik ein Ensemble zusammengestellt, das nicht nur frisch und unangestrengt klingt, sondern bei dem man tatsächlich auch jedes Wort versteht, was bei diesem so poetischen wie zupackenden Libretto ein großer Zugewinn ist.

Adrian Eröd erweist sich in der Titelrolle geradezu als Modellinterpret, ist entmenschter Herrscher – und Mensch, kann seinen Bariton hart schließen und, auch in tenoralen Höhen, durchscheinend weich führen. Tareq Nazmi ist ein geradezu unheimlich ruhiger und doch ironiefähiger Tod, Lars Woldt ein präziser, charmanter Lautsprecher. Johannes Chum beeindruckt als Harlekin und Soldat durch die Legatofähigkeit seines schlank geführten Tenors und erweist sich vor allem als sensibler Duettpartner, sowohl für den Tod als auch für die ihre Stimme entschlossen lyrisch führende Juliane Zara als Soldat Bubikopf. Reinsten Wohlklang verströmt Christel Loetzsch als Trommler, also des Kaisers Verlautbarungsinstrument. Durch ihr kostbares Mezzotimbre waltet auch hier jene Menschlichkeit, die Viktor Ullmann in jeder Note beschwört, als einzigen Weg aus allem.

Die Sensibilität und Eigenständigkeit, mit der sich der erst 26 Jahre alte Patrick Hahn dieses Werk so sensibel wie spielerisch erobert hat, erstaunt. Es ist eine absolute Referenzaufnahme geworden – und wird das vermutlich sehr lange bleiben.

Viktor Ullmann: Der Kaiser von Atlantis, BR Klassik
Erschienen am 15. April 2022
HIER äußert sich Patrick Hahn über seine erste Operngesamtaufnahme, HIER können Sie einen Ausschnitt hören, HIER ist die Aufnahme digital oder analog erhältich.