„Fidelio“-Gastspiel aus Kiev in Meiningen
Foto: Mitglieder der Opernchöre des Staatstheaters Meiningen und des Landestheaters Coburg in Andrey Maslakovs im Februar für das Modern Music Theatre Kiev entstandener „Fidelio“-Inszenierung © Christina Iberl Text:Roberto Becker, am 5. Mai 2022
„Fidelio“ ist eine Freiheitsoper. Mit allen dramaturgischen Fallen, die Beethovens Melange aus Singspiel und Pathos so bietet. „Freiheit ist ansteckend“ steht denn auch auf dem Transparent, das man am Rand der Rampe des Meininger Theaters kaum entziffern kann, weil es dort am Boden liegt. Den Regisseur dieser besonderen Inszenierung, die jetzt für einen Abend in dem berühmten, im wahrsten Wortsinn im Glanz seiner Geschichte strahlenden Haus gastierte, interessierten allerdings irgendwelche Feinheiten der mitteleuropäischen „Fidelio“-Rezeption nicht wirklich.
Der Bassbartion Andry Maslakov, der etwa in Erfurt als geschätzter Sänger schon öfter im Einsatz war, hat daheim in Kiev mit dieser hierzulande zum Pflichtkanon gehörenden Beethoven-Oper Neuland betreten. Die gab es nämlich – so berichtet er beim Pressegespräch – bis dato noch nie auf einer Bühne des Landes. Deshalb hat er als Regisseur und Bühnenbildner eine plakativ klare Bildersprache gewählt und die (ja auch in Originalsprache gelegentlich aufpolierten) gesprochenen Texte neu und in seiner Muttersprache verfasst. Für Meiningen gibt es die Texte auf Deutsch – erstaunlich, was sich Sänger alles in einer fremden Sprache so einpauken können, das man es am Ende sogar gut versteht. Doch so locker wie Marzelline (fidel und sympathisch: Olha Fomichova) hier die Verwirrung ihrer Gefühle in Bezug auf den so „männlich“ wirkenden Fidelio wegsteckt, als Leonore (Yuliia Alieksieieva) schließlich mit wallender Haarpracht lächelnd hinter Florestan (Serhii Androshchuk) steht, um ihr dann ihre Schürze umzubinden und sie in ein klassisches Frauenklischee zu verweisen, das würde hierzulande wohl niemand so machen können, ohne dass ihm die Gralshüter:innen der politischen Korrektheit aufs Dach steigen würden.
Mit diesem „Fidelio“, den Andrey Maslakov in seinem Modern Music Theatre Kiev am 12. Februar, also zwölf Tage, bevor der Krieg begann, zur Premiere brachte, geht es also nicht um psychologische Feinheiten. Hier geht es, nicht nur im Stück, im wahrsten Sinne um Leben und Tod. Wenn die wie durch ein Wunder nach intensivem Ringen der Thüringer Gastgeber (mit Hilfe aus der Staatskanzlei und letztlich mit dem Okay des Kulturministers in Kiev) dieses besonderen Gastspiels mit einem befristeten Visum aus der Ukraine aus- und nach Deutschland eingereisten Männer des Ensembles zurückkehren, besteht die reale Gefahr, dass sie entsprechend der von der Regierung verhängten Verpflichtung für aller wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren in die Armee eingezogen werden. Und den Einsatz nicht überleben. Es ist ein grauenhaftes Novum, dass sich in einem deutschen Theater eigentlich das erste Mal seit 1939 solche Befürchtungen in Bezug auf die Sänger, denen man zuhört und zusieht, aufdrängen.
Es ist ein echter Coup, der dem Intendanten des Staatstheaters Meiningen Jens Neundorff von Enzberg mit der Einladung dieser Opern-Produktion aus Kiev, vor allem aber mit ihrer Realisierung gelungen ist. Das ist eine Art von Solidarität, weit jenseits von Ritualen. Und von ganz anderem Kaliber, als das Gastspiel der Erfurter Oper im mondänen Monte Carlo, das sich mit der Rückkehr jener russischen Starsopranistin auf eine westliche Bühne schmückte, die sich zumindest bei Kriegsausbruch mehr als ungeschickt zwischen alle Stühle gesetzt hatte. Aber um den Boykott russischer Kultur geht es nicht – auch Masklakov verwendet für sein erhellendes Vom-Hoffnungsträger-zum-Chaos-Video am Ende „Schwanensee“-Ausschnitte. Dass er Stalin zum Gesicht einer exemplarischen Tyrannei macht und dessen Konterfei hinter den Gefangenen bei ihrem berühmten Chor aufziehen lässt, ist seit Putins offenen Bekenntnissen zum Erbe des roten Zaren ein Statement, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglässt – und zugleich der Erfahrung folgt, dass die unmittelbare Zeitgeschichte eine Weile braucht, bis sie zur direkten Verarbeitung in den Künsten taugt.
Regisseur Andrey Maslakov bei Proben mit Choristen aus Coburg und Meiningen
© Christina Iberl
So wie Maslakov vor der Premiere davon erzählte, wie und auf welchen Pfaden die Kulissen und Kostüme ihren Weg aus Kiev nach Meiningen gefunden haben, so taugt das selbst als Vorlage für einen kleinen Film zur Oper. Erst die verschiedenen Versuche, alles in einem nicht allzu großen Transporter zu verstauen, ohne Teile davon auf das Dach zu schnallen; dann wie über viele Ecken, Beziehungen und mit Blitzüberweisungen aus Deutschland für die von den Fahrern geforderte Vorkasse verladen und losgefahren wurde und wie das orthodoxe Osterfest zu Zwangspausen führte. Eine hübsche Szene gäbe wohl auch das verlangte Kontrollfoto vor einem wiedererkennbaren Gebäude in Ungarn her, mit dem die Fahrer beweisen sollten, dass man auf dem rechten Weg ins Zielgebiet ist. Dass in Meiningen mit heißer Nadel geprobt werden musste und am Mittwoch dann doch der berühmte Lappen hochging, so als wäre es das Normalste von der Welt, ist letztlich ein glänzender Beweis für die Vitalität der deutschen Stadttheater (Meiningen ist Staatstheater und dennoch eine Stütze dieses Systems). Dass sich der ukrainische Dirigent Serhii Androshchuk und Philippe Bach, der GMD der Hofkapelle, das Dirigat teilten, war keine Notlösung, sondern eine Demonstration der Verbundenheit.
Am Ende ist der Beifall mehr als nur Lohn für eine Kunstanstrengung. Er ist Ermutigung für die Künstler und tröstet das Publikum über die eigene Fassungslosigkeit über die Rückkehr des Krieges nach Europa hinweg. Wenigsten für diesen einen Abend. Und Jens Neuendorff von Enzberg konnte vermelden, dass das Theater in Coburg, dessen Chor an der Aufführung mitwirkte, aber auch die in Heidelberg und Siegen seinem Beispiel folgen wollen und den Ukrainern ihre Häuser für ihre Kunst öffnen werden. Das Wort von der Kunst als Überlebensmittel bekommt so einen ziemlich scharf gewürzten Beigeschmack von Wahrheit.
Am 8. und 9. Juni soll die Aufführung am Landestheater Coburg gezeigt werden.
Inszenierungsfoto aus der Kiever Originalaufführung
@ Anastasia Maslakova/Yurii Veres