Buch: Volker Hagedorn „Flammen“
Foto: Cover „Flammen“, Rowohlt Verlag unter Verwenung von „Impression III (Konzert)“ von Vasily Kandinsky © Rowohlt Verlag Text:Andreas Falentin, am 15. April 2022
Mit seinem Untertitel „Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918“ weckt der Autor Volker Hagedorn Erwartungen. Und er löst sie ein. „Flammen“ ist wirklich eine – große! – Erzählung und handelt tatsächlich – auch – im engeren Sinne von Europa (wenn auch unter weitgehender Aussparung Italiens) . Und die Handlungsentwicklung wird ausgelöst durch Schicksale von Komponistinnen und Komponisten und ihre Musik, ihren endgültigen Aufbruch aus der Romantik.
So entsteht ein episches, wirklich mitreißendes Panorama dieser Zeit zwischen Fin de Siècle und dem Ende des fürchterlichen Krieges. Es lebt von der plastischen Schilderung der Schauplätze, den Hauptstädten London, Paris, Berlin und Wien sowie zahlreichen Sommerfrischen, Urlaubs- und Exilorten, mit einem Exkurs nach Moskau und St. Petersburg. Es lebt von der Einbettung der geschilderten Erlebnisse und Hervorbringungen einzelner Menschen in übergeordnete politische, kulturelle und musikgeschichtliche Zusammenhänge. Und es lebt von den vielen Querverbindungen, die Hagedorn auf verschiedensten Ebenen herstellt zwischen der französischen Musikszene mit dem 1918 verstorbenen Debussy als Protagonisten mit dem Wiener Schönberg-Kreis, mit Gustav Mahler und Siegmund Freud und zahlreichen anderen Persönlichkeiten, darunter Igor Strawinsky, der Pianist Ludwig Wittgenstein und die Britin Ethel Smyth, neben Debussy sozusagen die zweite Hauptfigur des Buches. Wie sie zur Sympathisantin und später Protagonistin der britischen Frauenbewegung wird und wie diese, maßgeblich initiiert von Innenminister Winston Churchill, auf selten dumpfe, brutale und absolut sinnlose Weise bekämpft wurde, gehört zu den stärksten Stellen von „Flammen“.
Die Erzählung beginnt mit den merkwürdigen Vorgängen um die Uraufführung von Smyths Oper „Der Wald“ 1902 in Berlin, mit den Uraufführungen von Debussys „Pelléas et Mélisande“ und Franz Schrekers „Die Flammen“ in Wien. Das Theater steht also am Anfang dieses Zeitporträts, als Kunsttempel, vor allem als sozialer Ort. Dazu kommen etliche kenntnisreich, plastisch und vor allem leidenschaftlich beschriebene Musikstücke, die Schilderung politischer Prozesse, Exkurse in die bildende Kunst und die Literatur, in Stadtentwicklung und Wirtschaft und selbst in den Klatsch. Alban Berg war wohl tatsächlich mit einer unehelichen Tochter des österreichischen Kaisers verheiratet und auch die Affäre von Schönbergs Frau Mathilde mit dem Maler Gerstl nimmt recht breiten Raum ein.
Wir erleben eine späte Blütezeit des Geldadels – und eine frühe der bürgerlichen Repräsentation. Der komplette internationale Kulturbetrieb scheint durch Mitteln aus unendlich großen Privatvermögen finanziert worden zu sein. Künstlerinnen und Künstler waren auf Freunde angewiesen, auf offene Portemonnaies, auf Langmut und auf Glück. Debussy soll einmal, in heutige Währung umgerechnet, 8500 Euro Schulden bei seinem Schneider gehabt haben. Und er war nicht einmal ein großer Verschwender.
So zeigt der zudem klug illustrierte Dokumentarroman „Flammen“ eine glanzvolle, aber keine schöne Zeit. Fast wirkt der Krieg hier als folgerichtige Explosion auf eine Epoche der Maßlosigkeit einerseits und der aus dem 19. Jahrhundert mitgeschwommenen patriarchalischen Enge andererseits. Und eine Nähe zu unserer Zeit ist durchaus zu spüren…
„Flammen“ ist ein großartiges Buch: Es fesselt, es erfreut, es bringt zum Nachdenken und man lernt etwas.
P.S. Kennen Sie Ethel Smyth eigentlich? Ihr Leben ist, wie beschrieben, ein Fixstern von „Flammen“. Und dieses Leben – junge Frau aus reichem Haus, Studium in Leipzig, erfolgreiche Komponistin, Frauenrechtlerin, erfolgreiche Buchautorin, Röntgenhelferin im Ersten Weltkrieg – lohnt die literarische Gestaltung, ihre Musik vermutlich (ich kenne bisher aus eigener Anschauung nur die späte, sehr eindrucksvolle dramatische Kantate „The Prison“) die Beschäftigung. Smyth ist viel gereist. Wir treffen sie in London und Wien, in Berlin, Paris und beim Komponieren und Golfspiel in Ägypten. „Ethel“ nennt der Autor häufig empathisch seine Protagonistin, die Gegenfigur Debussy kommt nie ohne ihren Familiennnamen vor. So erleben wir Smyths Verschrobenheit, ihren Kampfgeist, ihren Esprit und vor allem die Kraft, die es sie kostet, als Frau selbstständige Komponistin zu sein und als solche zu überleben und Erfolg zu haben. Was auch heute außergewöhnlich wäre.
Volker Hagedorn „Flammen – Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918“
ISBN 978-3-498-00201-5, Rowohlt Verlag, 448 Seiten, 32 €
Erschienen am 12.4.2022