Digital verloren bei „The HOUSE” in Dortmund
Foto: Theater im virtuellen Raum: „The House” © Theater Dortmund Text:Jens Fischer, am 23. Mai 2020
„Jens, drück nochmal Q“, flüstert es aus dem Laptop. Denn „Jens“, die von mir mit zärtlichem Streicheln, kraftvollem Drücken, zunehmend desorientierterem Patschen und schließlich verzweifeltem Hämmern auf Tastatur und Mouse gesteuerte Figur, ein aus wenigen farbigen Flächen recht plump gebastelte Panda-Niedlichkeit, steht völlig verloren vor einer Wand. Der Versuch, bei der ersten Führung durch die virtuellen Bühnenbilder von „Das House – Reinventing the Real“ der Gruppe geladener Gäste zu folgen, brennt inzwischen so heiß, dass ich schon Schwierigkeiten habe, die richtigen Buchstaben auf der Tastatur zu finden. Q, Q, Q. Keine Gruppe, nirgends. Nur so eine Art Terminator in Crew-Weste. Doch auch wenn seine Miene unbeweglich bleibt, nehme ich an, dass seinem menschlichen Vorbild die Stimme gehört, die mich so freundlich auffordert, mich durch Drücken der Taste Q nach rechts zu drehen und der Gruppe die Treppen hinauf zu folgen.
Während ich das versuche, komme ich dem Crew-Mitglied sehr nahe, so dass ich ihn mit einer unbedachten Bewegung auf meinem druckempfindlichen Keyboard köpfe. Ist er jetzt in echt sauer? Wo ist die Gruppe? Wo ist das Theater? Gottlob wird der Kopf reimplantiert. Es soll ja auch weitergehen wider das immer noch geltende Verbot von körperlichem Theaterspiel mit körperlich anwesendem Publikum, weiter mit einem Beitrag zur Zukunft der Bühnenkunst. Wann wenn nicht jetzt in der coronabedingten Theater-Lockdown-Krisenzeit ist ein idealer Zeitpunkt für Nerds des Digitalen, eine kontaktlose Aufführung für selbstisolierte Menschen vor ihren Monitoren, Displays und Bildschirmen daheim zu kreieren, ja, dramatische Kunst komplett als interaktives Computerspiel anzubieten. „The House“ könnte ein Prototyp werden. Gebastelt wurde in der sechsten Sparte am Theater Dortmund, der im Frühjahr 2019 gegründeten Akademie für Theater und Digitalität. Bis 2021 forschen dort 54 Stipendiaten an der Verbindung zwischen darstellender Kunst und Technologien der Online-Präsentation. Unter anderem gefördert von einer Millionen Euro der Kulturstiftung des Bundes.
Die Ausgangssituation: Fast alles passiert bereits im Netz, die Politik und Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Freizeitgestaltung, große Teile des persönlichen Lebens verbringen viele Menschen dort, nur unbeugsame Theatermenschen leisten noch Widerstand mit dem geliebten Anachronismus ihrer analogen Kunst. Ist das heldenhaft? Oder lächerlich? Bedeutet Theater in Zukunft, Publikum über das Netz in ein Live-Ereignis zu involvieren? Die Fronten sind verhärtet. Denn während die einen als notwendige Bedingung für Theater einen physischen Ort ansehen, visionieren die anderen ein Cybertheater, in das sich das Publikum global einloggen und am Schauspiel aktiv als Performer oder passiv als Beobachter teilnehmen kann, Darsteller schalten sich von wo auch immer auf Stichwort zu.
Die begrenzten Möglichleiten realer Bühnenräume können Programmierer locker überwinden, Kosten für teure Aufbauten entfallen, hinzu kommt die Emanzipation von der Physik der Dingwelt. Es öffneten sich Entfaltungsmöglichkeiten, die nur durch die künstlerische Fantasie begrenzt seien, so die Hoffnung. „Die Abschaffung des Todes, ein Theater jenseits der Naturgesetze – und jenseits dieser ewigen und elenden Kausalität“ ist das Sehnsuchtsbild der „House“-Bauer. Wie ein uraltes Live-Medium auf dem Screen seinen Mehrwert gewinnen soll, bleibt aber die Frage. „House“-Regisseur Roman Senkl beantwortet sie vorläufig mit dem Hinweis, man könne unten ohne Hose, oben mit Bier und Zigarette dabei sein.
Zur Einführung in die „House“-Besichtigung betont er zudem mit verstörend entspannter Stimme, zumindest für Gamer werde eh alles selbstverständlich sein während der Führung. Für alle anderen Menschengattungen ist leider nichts selbstverständlich. Allein schon die schier endlose Liste von Tastaturbefehlen, die einem per Link zugänglich gemacht werden, macht Angst. Es folgt leider auch keine grundsätzliche Ein- und Anleitung – es geht einfach los. Hinein ins „House“-Universum per Mozilla Hubs, eine 2018 gestartete Plattform für VR-Treffen, die im Browser läuft, mit der VR-Brille als auch am Monitor funktioniert. Nutzer begegnen sich als Avatare in einer 3-D-Umgebung, können dort miteinander sprechen und interagieren.
Senkls Team hat Bilder der Dortmunder City eingescannt und surreal verfremdet. Ein gutes Dutzend Besucher wuselt in Gestalt von Pandas & Co. wirr durcheinander – mit dem Namensschriftzug überm Kopf. Die Stimmen der Guides sind vor lauter Verzerrungen und ständigem Schwanken zwischen sehr laut und sehr leise kaum zu verstehen. Gewichtige Anspielungen von eingescannten Schauspielern dringen aber durch. Etwa auf eine alles öffentliche Leben abschaltende Pandemie, was per Hustenanfall bekräftigt wird. „Dortmund-Dorstfeld, wir leben in finsteren Zeiten“ ist zu hören – als Verweis auf den Nazi-Kiez.
Ein paar aparte Sätze zum Marionettentheater fallen, während mein Panda immer noch vor einer Wand steht und ich das Geschehen nur zeitversetzt per Twitch-TV auf dem Tablet ansatzweise verfolgen kann. Dort geht es durch die Dortmunder City dem Schauspielhaus entgegen, durchs Foyer, über die Bühne, wo eine Ruine von Notre-Dame de Paris steht, direkt auf den Vorplatz der Kirche. „Bin ziemlich lost“ sind so Meldungen im Chat, „ich kapier gerade nichts“, „komme nicht weiter, lädt, lädt, lädt“. Die meisten Teilnehmer scheinen so hilflos wie ich. Rückfragen wie „mit was für einem Gerät nimmst du denn teil“ klingen da schon mitleidig. „Es liegt an deiner Internetverbindung“, lautet vielfach das Ausschlusskriterium. Nicht nur bei mir hängt sich der Rechner im Daten-Overkill auf.
Nichts geht mehr, kurz nachdem mein Panda überhaupt losspaziert ist. Ich verpasse alles, die virtuelle Welt ist unwirtlich, hinke der Computerspielgrafik um 20 Jahre hinterher, meint mein Sohn. „Ihr seid super und eine tolle Truppe“, stacheln derweil die Crew-Avatare den Rest der Gruppe an. Die, die übriggeblieben und durch genug Wände gelaufen sind, um final um Notre-Dame fliegen zu dürfen. Flugmodus ist übrigens durch Drücken der Taste G erreichbar … er sei aber „disabled“, verkündet einer der noch voll aktiven „House“-Besucher. Natürlich können meine offensichtlich mangelhaften Technikvoraussetzungen – Zocker-PC und High-Speed-Internet gehören halt auch nicht lebensnotwendig in den Haushalt – und fehlenden Computerkenntnisse sowie manuellen Minderbegabungen belächelt werden, aber wenn sie die Teilnahme an dieser öffentlich-rechtlich geförderten Kunst be- bis verhindern, kann nicht von einem niedrigschwelligen Angebot gesprochen werden.
Andererseits ist es natürlich auch einfach, sich über das partielle Scheitern der ersten Präsentation lustig zu machen. Aber wenn Senkl den Ablauf mit den Worten bejubelt, „das hat geflutscht“, ist diese Einschätzung nicht anders als grotesk zu nennen. Seine Frage, ob es ein bisschen Spaß gemacht habe, kann mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. Meine Freundin und ich waren nach 60 Minuten durchgeschwitzt, überfordert, fühlten uns alleingelassen. Der Rechner ist komplett abgestürzt. Wenn dies die Generalprobe der für Juni geplanten „House“-Premiere war, dann wird die ein Triumph. Vielleicht begegne ich dann auch meinem Geschöpf wieder. Denn wenn die Abschaffung des Todes durch das „House“-Team gelingt, müsste dann der kleine Panda nicht auf ewig im virtuellen Raum bleiben, frage ich mich beim Einschlafen. Während andere „House“-Gäste vielleicht noch der Einladung auf einen virtuellen Dancefloor folgen und ihre Avatare hüpfen lassen.