Zum Tod von Nello Santi
Foto: Der Dirigent Nello Santi 2019 bei einer Probe am Zürcher Opernhaus © Toni-Suter Text:Detlef Brandenburg, am 7. Februar 2020
Nello Santi war der Sachwalter der italienischen Opernkomponisten auf Erden. Auch wenn der 1931 in Venetien geborene Dirigent, Zeitgenosse von Herbert von Karajan, Tullio Serafin, Ricardo Muti oder Claudio Abbado, natürlich zur Generation der großen Pult-Stars gehörte; und auch wenn sein Erscheinen am Pult vor allem in seinen späten Jahren wahrlich von einer bannenden Aura umgeben war: Nello Santi war keineswegs der typische Maestro, dem die Musik Plattform der Selbstinszenierung war. Er hatte ein tief fundiertes, hochsensibles Wissen um die Stilistik der Musik und vor allem auch des Singens. Und er bemühte sich mit philologischer Akribie um den Notentext und dessen sinngemäße Ausführung. Dank seines photographischen Gedächtnisses war er auch ohne Partitur jederzeit auf der Höhe des musikalischen Geschehens.
Die Sänger verehrten ihn, weil er sie lehrte, dass der Notentext nicht etwa eine Fessel ist, sondern ein genau gearbeitetes, bei rechtem Gebrauch befreiendes Sprungbrett zum erfüllten Singen. Orchestermusiker bekamen es gelegentlich mit der Angst, weil er ihre Stimmen mindestens so genau zu kennen schien wie die Spieler selbst. Und auch den Opernhäusern mutete er gelegentlich allerhand zu, wenn er auf der vollständigen Aufführung ellenlanger Opern nach dem neusten historischen Notenmaterial bestand.
Schon als Kind war er ein Multitalent, spielte Klavier, Geige, Bratsche, Trompete und Kontrabass. Ans Opernhaus von Padua kam er als Souffleur, sprang aber auch mal ein, wenn ein Musiker ausfiel. Dort debütierte er 1951, kaum 20 Jahre alt, auch am Dirigentenpult. Will sagen: Nello Santi kannte die Oper von der Pike auf. Und er liebte sie auf sehr italienische Weise – worüber kein Hörer seiner Aufführungen im Zweifel sein konnte. „Italianità“ war bei ihm klingendes Glaubensbekenntnis, war seine Art von historisch aufgeklärtem Musizieren. Man müsse die Musik lieben, die man spiele, sonst solle man lieber Angeln gehen: Das war so einer der saloppen Sprüche, deren er der Nachwelt viele hinterlassen hat. Stets aber war unverkennbar, wieviel ernste Hingabe in dieser Liebe steckte.
Zeitgenössische Musik mochte er so wenig wie zeitgenössische Regie. Die Operngeschichte endete bei ihm mit „Wozzeck“. Und auch den hat er nie selbst dirigiert. Seit 1958 war er dem Zürcher Opernhaus über Jahrzehnte verbunden, bis 1969 als dessen Musikdirektor, danach als regelmäßiger Gast. Hier dirigierte er zuletzt im Frühjahr 2019 „Lucia di Lammermoor“. Daneben betrieb er seine internationale Karriere, war in New York der Förderer eines jungen schlanken Mannes mit Namen Luciano Pavarotti, dirigiert an der Mailänder Scala, an der Hamburgischen Staatsoper, an der Deutschen Oper Berlin… Auch als Konzertdirigent war Nello Santi tätig. Von 1986 bis 1994 war er Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Basel, mit anderen international tätigen Orchestern trat er regelmäßig auf. Doch sein eigentliches Metier blieb immer die italienische Oper der Belcanto-Tradition. Deren Komponisten verdanken ihm nicht nur die Pflege ihrer Italianità, sondern auch die Wiederentdeckung zahlreicher vergessener oder vernachlässigter Werke.
Doch nun ist der Sachwalter seine Idolen gefolgt: Nello Santi ist 88-jährig in Zürich gestorben.